Es geht nicht ohne die WHO. Multipolare Ordnung ist Staatsräson

Von Armin von Bogdandy und Pedro Villarreal

Ende 2019 trat in der chinesischen Stadt Wuhan ein neues Virus auf, SARS-CoV-2, das eine atypische Form von Lungenentzündung verursacht, COVID-19. Der Erreger hat eine Pandemie ausgelöst, die weltweit schon viele Opfer gefordert, zu bislang unvorstellbar restriktiven Maßnahmen geführt und neue politische Konflikte erzeugt hat. Sogar die bisherige multilaterale Weltordnung steht auf dem Spiel, wie das Rechtsregime der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt.
Die WHO dient seit 1948 dem globalen Multilateralismus und erstarkte nach dem Fall der Berliner Mauer zu einem Hoffnungsträger menschheitsfreundlicher global governance. Ihre Befugnisse sind umfangreicher als die der meisten anderen globalen Institutionen. Sicherlich kann sie keine lockdowns verhängen, Krankenhausbetten global verteilen oder Therapien verordnen. Sie kann aber, anders als die meisten globalen Organisationen, per Mehrheitsbeschluss der Mitgliederversammlung verbindliche Regulierungen erlassen. So beschloss sie 2005, unter amerikanischer Führung, die Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV), welche der internationalen Zusammenarbeit bei Pandemien Vorgaben machen und einen unerlässlichen Baustein der gegenwärtigen Krisenbekämpfung bilden. Weiter hat die WHO mit weltweiter Gültigkeit festgestellt, dass es sich um eine Pandemie handelt, und so dem Handeln von 194 aufgeschreckten Regierungen einen gemeinsamen Rahmen gesetzt.
Wie schon in früheren Notlagen empfiehlt die WHO dringend, Infizierte zu isolieren und Personen, mit denen sie Kontakt hatten, unter Quarantäne zu stellen. Sie hat jedoch keine Empfehlung zu Massenquarantänen (lockdowns) ausgesprochen, obgleich Art. 18 Abs. 1 IGV diese Maßnahme nennt. Das zeigt erhebliche menschenrechtliche Sensibilität. Isolierungen und Quarantänen schränken zahlreiche Freiheitsrechte massiv ein. Ihre Zulässigkeit erfordert daher in aller Regel nicht nur eine allgemeine Gefahr, sondern zudem eine individuelle Risikobewertung für jeden Betroffenen. In der gegenwärtigen Pandemie haben viele Länder aber lockdowns ohne solche Bewertungen verhängt, und manche fürchten, dass COVID-19 zu einer insgesamt illiberaleren Weltordnung führen könnte. Andererseits steht außer Frage, dass die menschenrechtlichen Schutzpflichten wirksame Maßnahmen verlangen, so insbesondere das Recht auf Gesundheit.
Entsprechend sind schwierigste Abwägungsentscheidungen zu treffen. Dabei kommt Empfehlungen der WHO erhebliche Bedeutung zu, wie Art. 26 der Syrakus-Prinzipien zu Bestimmungen des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte zeigt. Für die Fortentwicklung der Weltordnung ist es daher überaus relevant, dass die WHO sich gerade nicht positioniert. Sie hat zwar die Regierungen Chinas und Italiens für ihre lockdowns gelobt, selbst aber lediglich individuelle Quarantäne- beziehungsweise Isolierungsmaßnahmen empfohlen und erklärt, dass die schwersten Einschränkungen mit dem spezifischen Rechtsrahmen abgeglichen werden sollten. Das erscheint weise: Ein reflektierter Multilateralismus zielt mit seinen globalen Institutionen nicht auf eine Ersetzung zentraler Staatsfunktionen, sondern auf deren kooperative Ergänzung im Lichte gemeinsamer Herausforderungen und Ziele.
Der amerikanische Präsident stellt nun genau diese Rolle der WHO in Frage. Er behauptet, sie sei mitverantwortlich für das Ausmaß der Pandemie, ein Hindernis bei effektiven Maßnahmen und sogar ein Instrument chinesischer Politik. Entsprechend will er sie mittels des Entzugs finanzieller Förderung massiv schwächen. Sicherlich ist ungeklärt, ob die chinesische Regierung im Dezember 2019 Art. 6 IGV nachkam, die WHO innerhalb von 24 Stunden über "alle Ereignisse, die eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite darstellen können", in Kenntnis zu setzen. Es gibt substantiierte Hinweise über Verzögerungen bei der Informationsweitergabe. Es mag auch gut sein, dass die WHO nicht mit allem Nachdruck auf Aufklärung drängte. Dass dies aber zu "so much death" in den Vereinigten Staaten führte, erscheint kaum plausibel. Einen Beweis hat der amerikanische Präsident nicht erbracht, und er dürfte angesichts des fahrlässigen Zuwartens seiner Regierung noch im März kaum zu erbringen sein.
Ein zweiter Vorwurf Trumps betrifft die Empfehlung der WHO, in der gegenwärtigen Krise auf Reisebeschränkungen zu verzichten. Abgesehen davon, dass diese Empfehlung der WHO kaum befolgt wird, ist nicht zu erkennen, wie sie einen Schaden verursacht haben könnte. Art. 43 IGV stellt klar, dass "zusätzliche Gesundheitsmaßnahmen" der Staaten zulässig bleiben und sie nur verpflichtet sind, die WHO über ihre Maßnahmen zu informieren und die weiter reichenden Einschränkungen zu begründen.
Trumps Wut versteht sich vor dem Hintergrund des geopolitischen Wettstreits mit China, in dem die Vereinigten Staaten momentan nicht gut dastehen. Die jüngste chinesische Propaganda zeigt, dass die chinesische Regierung ihre Überlegenheit gegenüber dem Westen damit erweisen möchte, dass sie deutlich besser mit der Pandemie zurechtkomme. Das chinesische Regierungssystem präsentiert sich inzwischen als ein globalisierungsfähiges Modell. Wahrscheinlich versteht es sich daher auch als maßgeblich für die Standards von good governance, die multilaterale Organisationen anderen Staaten dieser Welt nahebringen sollen. Es ist insofern relevant, dass die Mitarbeiter der WHO und sogar ihr Generaldirektor Entscheidungen der chinesischen Regierung und die Arbeit der chinesischen Behörden gelobt haben. Gleiches gilt aber für die italienische Regierung und sogar Trump selbst. Eine internationale Organisation ist eben keine Weltregierung und daher vom goodwill der Mitgliedstaaten abhängig. Insgesamt stellen bislang die meisten der mit dem internationalen Gesundheitswesen vertrauten Beobachter der WHO unter ihrem Generaldirektor Ghebreyesus in der gegenwärtigen Pandemie ein ziemlich gutes Zeugnis aus, ungeachtet einiger Verzögerungen, die nach Erklärung rufen. Sicherlich sollte nach dem Abklingen der Pandemie ein unabhängiger Untersuchungsausschuss (Art. 50 IGV) die Maßnahmen der WHO prüfen, so wie bereits bei der H1N1-Pandemie 2009-2010 und der Ebola-Krise 2014-2016 in Afrika.
Die WHO sollte eine klärende technische Rolle in dem Wettstreit der politischen Systeme spielen und damit zugleich dem globalen Diskurs dienen, wie man sich in Zukunft vor solchen Pandemien besser schützt. Dafür sollte sie unter anderem verlässliche Zahlen liefern, wie viele Menschen der Krankheit in den verschiedenen Ländern erlegen sind. Nun dürfte eine Regierung leicht versucht sein, diese Zahlen zu schönen. Aber Art. 9 IGV ermöglicht der WHO, nicht nur offizielle Berichte, sondern auch "andere Berichte" über die Lage in einem Land zu berücksichtigen. Da selbst in China die sozialen Medien über Todesfälle berichten, kann die WHO die offiziellen Daten mit solchen "anderen Berichten" vergleichen, Unstimmigkeiten identifizieren, von den Landesbehörden eine Klärung verlangen und Nichtkooperation publik machen (Art. 10 IGV). Solche Transparenz und Sichtbarmachung blinder Flecken dient dem globalen Interesse an globaler Gesundheit.
Deutschland und Europa dürfen sich in diesem Wettstreit nicht passiv verhalten. Eine multilaterale und freiheitliche, auf die Würde eines jeden Menschen ausgerichtete Weltordnung zu verfolgen gehört zur deutschen Staatsraison und ist nach Art. 21 Abs. 1 EUV ein Verfassungsgebot der Europäischen Union. Die WHO, das zeigt die gegenwärtige Pandemie überdeutlich, ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Ordnung. Das bedeutet unter anderem, der Organisation aus der schweren Finanzkrise zu helfen, in die sie der amerikanische Präsident verantwortungslos stürzt.
Professor Dr. Armin von Bogdandy ist Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Dr. Pedro Villarreal ist dort Referent.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 23. April 2020. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv


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