Bedrohungen unserer Welt
FRANKFURT Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer spricht über rechte Allianzen
Skeptisch blickt er in die Zukunft. Wie sein Kollege Ralf Dahrendorf, der schon 1997 festgestellt hatte: "Wir stehen vor einem autoritären Jahrhundert." Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer sieht einen "schleichenden Prozess" autoritärer Bedrohungen unseres Gemeinwesens am Werk. Und das nicht erst seit der Corona-Krise. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts habe eine Krise die andere abgelöst: Dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 folgten die Finanzkrise 2008/09 und die Flüchtlingskrise 2015. Jetzt greife eine Pandemie in die gesamte Gesellschaft ein. "Immer wieder wurden Kontrollverluste erzeugt, und jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Realitätskontrolle", sagt Heitmeyer. Mit Verschwörungstheorien suchten die verunsicherten Menschen Klarheit: einen politischen Ort.
Der Gründer und bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 2013 auch Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld wird heute um 19.30 Uhr die neue partizipative Reihe "Denk Art" im Haus am Dom eröffnen: mit einem Vortrag zum Thema "Autoritäre Bedrohungen oder liberale Demokratie? Die offene Gesellschaft im Ausnahmezustand". Heitmeyer wird digital zugeschaltet, auch er gehört mit seinen 74 Jahren zur Corona-Risikogruppe. Die Veranstaltung findet mit nur 40 Besuchern und als Livestream über den Youtube-Kanal des Hauses am Dom statt. Schon 2018 hatte er ein Buch unter dem Titel "Autoritäre Versuchungen" bei Suhrkamp publiziert. Im Gespräch mit dieser Zeitung erläutert er jetzt, warum aus den "Versuchungen" mittlerweile "Bedrohungen" geworden sind.
Heitmeyer denkt zurück an die "Hochzeit des Neoliberalismus" vor der Finanzkrise. Seine These: "Der autoritäre Kapitalismus konnte machen, was er wollte. Der Nationalstaat konnte sich nicht dagegen wehren." Das habe den Blick der Menschen auf das politische System verändert. "Der Apparat funktionierte, das Vertrauen erodierte." Heitmeyer sucht Erklärungen jenseits des Parteiensystems. Für ihn spielen "Integrationsprozesse und Anerkennungsdefizite" eine wichtigere Rolle, auch im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland. Wer sich nicht anerkannt fühle, erliege eher der Versuchung zu "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" und Diskriminierung von Minderheiten.
"Diese Leute sind zwischen den Parteien vagabundiert", fährt Heitmeyer fort. Bis sich die AfD 2015 aufgespalten habe. Damals sei ein "autoritärer Nationalradikalismus" entstanden. Dieser Begriff ist seine Wortschöpfung, denn den Begriff "Populismus" hält Heitmeyer für verfehlt. In seinem neuen Buch, das am 12. Oktober unter dem Titel "Rechte Bedrohungsallianzen" bei Suhrkamp erscheint, schält er metaphorisch eine Zwiebel, wie auch im Gespräch, wenn er seine These erläutert. Die äußere Schale entspreche den obengenannten Abwertungseinstellungen. Diese seien eine Legitimation für den autoritären Nationalradikalismus, der wiederum extreme Gruppen legitimiere. Diese systemfeindlichen Gruppen wiederum pflegten den Kontakt mit kleineren Terrorgruppen.
"Die Gruppen werden immer kleiner und rabiater." Heitmeyer spricht von einer "Gewaltmembran" und einem "Eskalationskontinuum". Er mahnt: "Wir können uns als Bevölkerung nicht vom Acker machen, denn wir haben damit zu tun über Legitimationsbrücken." Die AfD versuche, in die Institutionen einzudringen: in die Polizei, die Bundeswehr, die Jurisdiktion. Auch in die Kultur, indem sie nach deutschen Theaterstücken verlange oder nach Ausländern in den Ensembles frage. "Die Grenzen zwischen den Gruppen verschwinden, wie man in Chemnitz 2018 sehen konnte." Auch Autoren wie Thilo Sarrazin und Peter Sloterdijk gehörten in den "Kranz der Akteure". Deshalb würden die "verdeckten autoritären Bedrohungen" vielfach nicht wahrgenommen.
"Wenn sich die AfD nicht selbst zerlegt, ist sie ein politisches Wachstumsmodell", so Heitmeyer. Denn wer sich nicht politisch wahrgenommen fühle, wer um seinen Arbeitsplatz und um das Dach über seinem Kopf fürchte, der suche nach "alternativen Anerkennungsquellen". Wenn sich eine autoritäre Sozialisation wie bei ehemaligen DDR-Bürgern mit Kontrollverlust verbinde, "dann wird es ganz happig", resümiert der Soziologe. Nun aber belegt eine neue Studie, dass der sogenannte Populismus seit einiger Zeit weniger Resonanz in der Bevölkerung findet. Mal sehen, was Heitmeyer in der Denk-Art-Debatte dazu sagt.
CLAUDIA SCHÜLKE.
ERÖFFNUNG der neuen Reihe im Haus am Dom heute um 19.30 Uhr, Stream auf Youtube im Kanal Haus am Dom. Nächster Termin 17. November um 19.30 Uhr mit Jutta Allmendinger.
Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 08.09.2020, Kultur (Rhein-Main-Zeitung), Seite 40. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv