Nicole Deitelhoff und Rainer Forst
Begrüßungsworte zur Eröffnung der Konferenz „Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz“, veranstaltet von der Bildungsstätte Anne Frank (konzipiert von Saba-Nur Cheema) und durchgeführt in Kooperation mit dem Forschungszentrum Normative Ordnungen, dem Gleichstellungsbüro der Goethe-Universität und mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung (zur Veranstaltung)
Goethe-Universität Frankfurt am Main, 13. November 2023
Nicole Deitelhoff:
Guten Morgen! Mein Name ist Nicole Deitelhoff und ich freue mich, Sie gemeinsam mit meinem Kollegen Rainer Forst als Kooperationspartner der Bildungsstätte Anne-Frank und der Bundeszentrale für Politische Bildung hier bei uns auf dem Westend-Campus zur Konferenz „Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz“ begrüßen zu dürfen.
Manche mögen fragen, ob dies wirklich der richtige Zeitpunkt für eine solche Tagung ist. Um genau zu sein, haben uns das einige gefragt, und wir haben lange und intensiv darüber diskutiert. Können wir in einer Phase, in der antisemitische Übergriffe und Hassrede gerade aus muslimischen Milieus derart massiv zunehmen, wirklich sinnvoll über Muslimfeindlichkeit sprechen?
Wir glauben, dass gerade jetzt der Zeitpunkt ist, auch diese Fragen und die Ergebnisse aus dem Bericht des Expert.innenkreises der Bundesregierung dazu zu diskutieren, weil wir uns mit einer Situation konfrontiert sehen, in der Antisemitismus massiv ansteigt, aber auch Muslimfeindlichkeit deutlich hervortritt: Forderungen wie jene, ein individuelles Bekenntnis jedes Muslims gegen die Hamas oder für Israel als Voraussetzung für Teilhabe in Deutschland verlangen zu müssen, oder die Behauptung, der Antisemitismus sei ein eingewandertes Problem durch muslimisch geprägte Migrant.innen und die Konsequenz daher deren Ausweisung oder generell die Begrenzung der Migration von Muslim.innen sind dafür einschlägig. Diese Aussagen sind gegenwärtig verbreitet und sie machen deutlich, wie sehr es gerade in diesen Zeiten Differenzierung und Zugewandtheit statt weiterer Abgrenzung braucht. Wir müssen Probleme klar benennen, aber ohne der Versuchung anheim zu fallen, pauschal zu generalisieren. Das fällt schwer, insbesondere in Krisenzeiten, wie wir sie gerade erleben, wenn Angst, Verunsicherung, aber auch Wut bei vielen vorherrschen.
Normative Orders wurde von der Bildungsstätte Anne Frank gefragt, ob wir uns als Kooperationspartner an der Konferenz beteiligen würden, und wir haben zugesagt, weil wir genau solche differenzierten und zugewandten Debatten fördern wollen. Es geht mithin, wenn heute über Muslimfeindlichkeit gesprochen wird, darum, eine Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit zu diskutieren, die ebenso verachtenswürdig ist wie andere Formen.
Natürlich können wir in einer solchen Tagung nicht umhin, über den 7. Oktober in Israel zu sprechen und den Antisemitismus, den wir seitdem in Deutschland, aber auch weit darüber hinaus zur Kenntnis nehmen müssen. Unsere Linie dazu ist völlig klar: Die Massaker an Jüdinnen und Juden am 7. Oktober diesen Jahres sind ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Genauso wie die Verschleppung von mehr als 200 Geiseln, von Babies bis zu Greisen. Der Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinenserinnen und Palästinensern kann sie in keiner Weise rechtfertigen. Sie sie sind nur der banale Ausdruck von Menschenverachtung und Vernichtungsabsicht.
Das heißt nur ebenso nicht, dass deswegen die Handlungen Israels im Gazastreifen nicht kritisch kommentiert werden dürfen. Natürlich dürfen sie das und müssen sie auch. Es ist nicht antisemitisch, Israels Regierung an ihre Pflichten gemäß des Humanitären Völkerrechts, aber auch der allgemeinen Humanität zu erinnern, die Zivilbevölkerung zu schonen. Antisemitisch ist es, aus der Kritik an einer Politik des israelischen Staates die Verachtung alles Jüdischen abzuleiten oder dem israelischen Staat oder Jüdinnen und Juden das Existenzrecht abzusprechen.
Rainer Forst:
Ich begrüße Sie gemeinsam mit Nicole Deitelhoff nicht nur als Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen, sondern auch als Wissenschaftler, der sich mit der Geschichte und der Gegenwart von Toleranz und Intoleranz intensiv auseinandergesetzt hat. Auch deshalb habe ich die Initiative von Frau Cheema für die Bildungsstätte Anne Frank sehr begrüßt, den Bericht des Expert*innenkreises Muslimfeindlichkeit und der darin aufgeworfenen Fragen hier an unserer Universität in Kooperation mit uns zu diskutieren.
Denn wir müssen, um an Nicole anzuschließen, einer negativistischen Dialektik widerstehen, die heute allzu leicht einschnappt, nämlich die berechtigte Kritik an radikal-islamistischen, antisemitischen Aus- und Vorfällen mit dem unberechtigten Generalverdacht zu verknüpfen, diese Radikalen, die nach dem Kalifat rufen und jüdische Menschen bedrängen, sprächen nur aus, was alle Muslime denken. Das Muster ist klar: Pars wird pro toto genommen, und auf das totum das ganze Arsenal der Stereotype projiziert, die der umfassende und beeindruckende Bericht aufzählt: Muslime sind gewalttätig, demokratiefeindlich, antisemitisch und frauenfeindlich ohnehin; auf jeden Fall „integrationsunwillig“. Und schnell wird der Bezug zu einem restriktiven Staatsbürgerrecht und zur Migrationsbegrenzung gezogen. „Othering“ in reinster Form. Zurecht warnt der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Mazyek: Passt auf, wo ihr mitlauft! Die Bilder setzen sich fest und festigen stereotype Muster.
Wer die Geschichte der Toleranz und Intoleranz kennt, weiß, wie tief solche Muster sitzen, ob sie die lange Geschichte der Ausgrenzung des Judentums in christlichen Gesellschaften oder die Vorbehalte gegen Muslime betreffen. Wenn wir etwa in einem der Grundbücher der Toleranzbegründung blättern, John Lockes Letter Concerning Toleration(1689), lesen wir dort, dass im anglikanischen England zwar protestantische Dissenters zu dulden sind, nicht aber die katholische Kirche, da sie sich über die weltliche Regierung stelle, und auch nicht der Islam als Organisation: „It is ridiculous for any one to profess himself to be a Mahumetan only in his Religion, but in every thing else a faithful Subject to a Christian Magistrate, whilst at the same time he acknowledges himself bound to yield blind obedience to the Mufti of Costantinople; who himself is entirely obedient to the Ottoman Emperor, and frames the feigned oracles of that religion according to his pleasure.“ Wir wissen, wer heute allzu gerne diesen osmanischen Sultan spielt und wie dies zu einem ausgrenzenden Argument wird, das sich pauschal gegen türkische Mitbürger*innen richtet. Wir leben in Zeiten, in denen Extreme einander aufschaukeln und alte Skripte des Nichtverstehens und der Diskriminierung wiederaufführen.
Dieser Teufelskreis ist nur zu durchschneiden, wenn wir uns an Grundsätze des menschenrechtlich formulierten, demokratisch gelebten gleichen Respekts halten und sie korrekt interpretieren. Dazu gehören die Prinzipien des religiös neutralen Rechtsstaats. Hier aber beginnt, wie wir insbesondere seit den Kruzifix- und Kopftuchkonflikten der Neunziger wissen, die Geschichte, die unsere Toleranzdiskussionen heute noch bestimmt. Denn abgesehen davon, dass in unserem Land viele nicht die Grenze zu ziehen wissen zwischen den Überzeugungen und Praktiken, die sie ablehnen, etwa aus religiös-ethischen Gründen, und den Überzeugungen und Praktiken, die absolut nicht tolerierbar sind, weil sie gegen Menschenrechte und Grundprinzipien des Zusammenlebens verstoßen, schleicht sich in die Rede der Toleranz selbst bisweilen das Gift der Diskriminierung ein.
Dann wird Toleranz so verstanden, dass man all den „Fremden“, die verdächtige Überzeugungen und Sitten haben, erlaubt, in einem Land zu leben, solange sie die „Hausordnung“ der Mehrheit anerkennen. Dies nenne ich die Erlaubniskonzeption der Toleranz: die Mehrheit legt fest, was gilt, und wenn in ihren Augen das Christentum dominieren soll, dann hat das Vorrecht. Das ist die Toleranz, die Goethe eine „Beleidigung“ nennt, und das ist die Toleranz, die etwa bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sagte: Toleranz ja, Ehe nein. Das ist die schiefe, asymmetrische Toleranz, die besagt, hier könne ja jederfrau Lehrerin oder Richterin werden, sie müsse nur das Kopftuch ablegen. Das ist eine nichtneutrale Neutralität, die Vorrechte untermauert und gleiche Rechte verweigert.
Aber es gibt eine andere Form der Toleranz, die ich Respektkonzeption nenne. Hier bestehen religiöse Differenzen weiterhin, auch tiefgreifende, aber alle sind bereit, die anderen als Gleiche zu achten, auch dort, wo es wehtut. Dann werden Moscheen nicht in Hinterhöfe oder Industriegebiete verbannt, dann hängen keine Kreuze oder Kruzifixe in Klassenzimmern oder Gerichten, dann werden Lehrerinnen und Juristinnen, die den Ausbildungsweg erfolgreich durchlaufen haben, auch mit ihrer sichtbaren religiös-kulturellen Identität ihren Beruf ausüben können, weil man ihnen zutraut, zwischen Religion und Amtsausübung zu unterscheiden. Das trauen wir auch religiös denkenden christlichen Richter*innen zu. Das ist rechtsstaatliche Neutralität recht verstanden, wie in anderen liberal-demokratischen Ländern auch. Staatliche Neutralität heißt, bei der Respektierung von Grundrechten keine diskriminierende Benachteiligung walten zu lassen.
Auf unseren Konferenzen, die sich diesen Themen widmen, zitiere ich gerne das berühmte Wort Adornos, dass wir den besseren Zustand als den denken sollten, „in dem man ohne Angst verschieden sein kann“ (Minima Moralia, Stück 66). Und ja, wie schön wäre das. Das hieße Freiheit und Respekt für die Mädchen und jungen Frauen, die kein Kopftuch tragen wollen, und Freiheit und Respekt für die, die es tragen wollen. Das wäre ein Leben ohne diskriminierende Zwänge in Geschlechterfragen. Das wäre ein Leben frei von Verdächtigungen, jedoch nicht frei von Kritik, wenn man sich auf Abwege begibt. Aber allen wäre klar, in einer Sprache, die wirklich allgemein gilt, was ein Abweg ist, der die Grenzen rechtlich-politischer Toleranz überschreitet, nämlich eine Verletzung von Grundregeln des menschenrechtlichen Respekts unter Gleichen. Die, die andere daran erinnern, sollten dann auch selbst bereit sein, diese Grundregeln zu akzeptieren; das gilt für Minderheiten wie Mehrheiten gleichermaßen. Kritik muss auf Augenhöhe stattfinden, ohne Identitätsfallen. Noch einmal Adorno: „Freiheit wäre, nicht zwischen schwarz und weiß zu wählen, sondern aus solcher vorgeschriebenen Wahl herauszutreten.“ (Minima Moralia, Stück 85).
Ich übergebe nun das Wort an Saba-Nur Cheema, die diese Konferenz konzipiert hat, mit meinem herzlichen Dank an sie für Ihren Einsatz, an alle Vortragenden und die Moderatorin sowie an alle, die dazu beigetragen haben, von der Bildungsstätte und auch von unserem Zentrum und der Universität – und für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wünsche uns offene und in Adornos Sinne freie Diskussionen.