Die Juristin und Politikwissenschaftlerin Ayelet Shachar hat den diesjährigen „Carreer Achievement Award“ der Migration and Citizenship Organized Section der American Political Science Association (APSA) gewonnen. Mit dem Preis werden akademische Karrieren ausgezeichnet, die durch überragende Publikationen und Lehre sowie andere Aktivitäten und öffentliche Forschungsarbeiten das Verständnis von Migration und/oder Staatsbürgerschaft im politischen Leben vorangebracht haben.
Shachar habe in ihrer Karriere die wissenschaftlichen Paradigmen im Verständnis von Migration, Staatsbürgerschaft und Zugehörigkeit verändert, heißt es in der Verkündigung. Damit habe sie das Forschungsfeld der Migration und Staatsbürgerschaft in all seinen Facetten beeinflusst.
Ayelet Shachar ist R.F. Harney Chair in Ethnic, Immigration and Pluralism Studies sowie Professorin für Recht, Politikwissenschaft und Globale Angelegenheiten an der Universität Toronto. Im Jahr 2019 erhielt sie den renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 2015 bis 2020 leitete sie das Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften. Die von ihr geleitete Leibniz Research Group „Transformations of Citizenship“ ist am Forschungszentrum Normative Orders der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelt.
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Am Mittwoch, dem 11. September 2024, wurde in der Paulskirche Frankfurt am Main die renommierte politische Philosophin Prof. Dr. Seyla Benhabib mit dem Theodor W. Adorno-Preis 2024 für ihre herausragenden Verdienste um die kritische Theorie, politische Philosophie und Demokratieforschung ausgezeichnet. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wird alle drei Jahre am 11. September, dem Geburtstag Theodor W. Adornos, verliehen.
Das Kuratorium beschreibt Dr. Benhabibs Werk wie folgt: „[…] Im Zentrum des umfangreichen Werkes von Benhabib steht die Herausforderung, wie Gesellschaften die Universalität von Menschenrechten mit legitimen Interessen auf Alterität austarieren können. Das von ihr entwickelte diskursethische Instrumentarium dient dazu, Gegensätze zu überwinden. Im Sinne eines moralischen Universalismus im Anschluss an Kant untersucht Benhabib Fragen zum Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Globalisierung. Dabei hält sie in kritisch-emanzipatorischer Absicht am Konzept universaler Menschenrechte und an der Idee des Kosmopolitischen fest. In beiderlei Hinsicht sei es entscheidend, die Conditio humana im Plural zu fassen: Nur praktische Solidarität und gelebte Demokratie ermöglichten es, die Würde aller Menschen zu wahren und zugleich die Bedingungen menschlichen Lebens aufrechtzuerhalten. In einer Welt, deren Spannungen manifest und zunehmend krisenhaft sind, bestechen Benhabibs Analysen durch Klarheit und Kohärenz und ihre politischen Forderungen durch das Festhalten an einem Kosmopolitismus jenseits von Interventionismus und Indifferenz. Ihre Verteidigung universalistischer Theorie postuliert eine kommunikative Ethik, die praktische Philosophie als dialogischen Prozess einer ‚erweiterten Denkungsart‘ begreift.“
Kultur- und Wissenschaftsdezernentin Dr. Ina Hartwig, sowie Oberbürgermeister Mike Josef Mitglied des Kuratoriums des Adorno-Preises berichten: „Für den Adorno-Preis des Jahres 2024 hätte es keine bessere Preisträgerin als Seyla Benhabib geben können. Sie verbindet in ihrer Deutung des Universalismus wesentliche Positionen der Kritischen Theorie mit denjenigen Hannah Arendts und entwickelt daraus eine genuin eigene philosophische Position, die Antworten auf zentrale Fragen unserer Zeit findet. Die glanzvolle Preisverleihung am 11. September hat den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt erneut als eines der großen intellektuellen Ereignisse Deutschlands erwiesen.“ Wir gratulieren Prof. Dr. Seyla Benhabib herzlich!
Crisis Talk zur Regression der Demokratie in Europa 100 Tage nach der Wahl – Ein Nachbericht
2024 ist ein globales Superwahljahr: Etwa 45% der Weltbevölkerung sind in ca. 70 Wahlen aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Zugleich zeigen jedoch Daten des Varieties of Democracy-Projekts (V-Dem), dass die Qualität der Demokratie global sinkt, und an verschiedenen Orten eine Autokratisierung, häufig als Regression der Demokratie beschrieben, zu beobachten ist. Über den Zustand der Regression der Demokratie 100 Tage nach der Europawahl diskutierten am vergangenen Dienstag die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments Dr. Katarina Barley, MdEP Prof. Dr. Sven Simon und Prof. Dr. Rainer Forst (Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen der Goethe-Universität Frankfurt). Die Veranstaltung fand im Rahmen der Reihe Crisis Talks statt, die der Leibniz-Forschungsverbund CrisEn , das Forschungszentrum Normative Ordnungen und das Europabüro der Leibniz Gemeinschaft gemeinsam mit der Vertretung des Landes Hessen bei der EU veranstalten.
Im Anschluss an die Grußworte von Dr. Parinas Parhisi (LV Hessen) und Dr. Stefan Kroll (PRIF) begann die Veranstaltung mit einem Impulsreferat von Rainer Forst zum soziologisch-abstrakten Begriff der Regression, bei dem es im Kern um autoritäre und menschenrechtsfeindliche Akteure gehe, die sich „auf die Demokratie berufen und sie zugleich gefährden“. Konkret bezogen auf die EU bestehe eine „Realparadoxie“ darin, dass hier „Parteien in das Parlament gewählt [wurden], denen dieses Parlament selbst und die Prinzipien der EU ein Dorn im Auge sind“. Damit verbunden sei ein tiefer Angriff auf das Verständnis der Demokratie, den es unbedingt abzuwehren gelte. Demokratie dürfe nie so begriffen werden, dass politische Macht dazu verwendet werde, Minderheiten in einer Weise zu dominieren, die ihnen Partizipationschancen nehme. Die Demokratie beruhe darauf, „die Rechte einer jeden Person, als frei und gleich zu respektieren“. Diese Mindeststandards nicht nur zu unterlaufen, sondern aggressiv zu bekämpfen und damit in Wahlen erfolgreich zu sein, sei weit davon entfernt ein Ausdruck legitimer Demokratie zu sein, sondern vielmehr ein „Obsiegen der Unvernunft“, dem begegnet werden muss.
Daran anknüpfend betonte Katarina Barley,dass diese Umdeutung demokratischer Begriffe nicht zufällig geschehe, sondern vielmehr der Kern regressiver Strategien sei. Immer wieder erlebe sie in ihrer politischen Praxis, das Begriffe besetzt, in ihrem Kern verdreht und eigentlich demokratiefeindlicher Absicht verwendet würden. Das Erstarken der Rechten in der Europawahl führe nun dazu, dass diese Deutungen im politischen Prozess normalisiert und aufgewertet würden. Diese Beobachtung teilt auch Sven Simon, der vor allem auch unangemessene Angriffe auf die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als ein weiteres Beispiel nannte.Simon betonte aber auch die klare pro-europäische Mehrheit im Parlament, die den regressiven Kräften gegenüberstehe.
Während der anschließenden Diskussion navigierte Moderatorin Rebecca C. Schmidt eine Reihe weiterer wichtiger Themen der EU-Politik an, die über den Zustand und das Selbstverständnis der Demokratie in der Union Auskunft geben wie beispielsweise die aktuelle ungarische Ratspräsidentschaft. Katarina Barley gab zwar zu, dass es auch in der Vergangenheit wiederholt gemischte Erwartungen gab, wenn EU-kritische Akteure verantwortliche Rollen übernahmen, sich dies dann aber oft als gar nicht so problematisch erwiesen habe. Im Falle der aktuellen Präsidentschaft sei es aber in der Tat so, dass diese in Teilen die Eskalation suche.
Unterschiedliche Perspektiven gab es auf dem Podium mit Blick auf die Frage der Migration Asylsuchender. Während Rainer Forst auf die Menschenrechte als zentralen Maßstab hinwies, betonte Sven Simondie rechtlichen Grundlagen der Migration wie das Erfordernis des Grundgesetzes, dass sich auf das Recht auf Asyl nicht berufen könne, wer aus einem Land der EU oder einem sicheren Drittstaat einreise. Auch müsse es der Anspruch sein, Menschen nicht nur aufzunehmen, sondern ihnen auch Integrationsangebote zu machen und hier seien die Mittel letztlich begrenzt. Wichtig ist aber auch –und dies schlägt die Brücke zur Deutungshoheit der Begriffe – die Definition der Herausforderungen im Themenfeld Migration nicht den Extremisten zu überlassen. So hat es eben auch hier einen Effekt, so Forst, wenn Migration stets mit Begriffen von Bedrohung und Sicherheit assoziiert werden.
Abschließende Publikumsfragen richteten sich u. a. auf die Möglichkeit der Ausweitung direktdemokratischer Elemente. Während Sven Simon und Katharina Barley sich klar zur repräsentativen Demokratie bekannten, verdeutliche Rainer Forst erneut, die Potentiale der Demokratie jenseits von Wahlen – Demokratie sei eben mehr als eine „Wahlzettelzählveranstaltung“. Ein schönes Schlusswort, wie wir finden.
In English: „Crisis Talk on the Regression of Democracy in Europa 100 Days after the Election“
“A Triumph of Unreason”
Crisis Talk on the Regression of Democracy in Europe 100 Days after the Election – a report
2024 is a global super-election year: around 45% of the world’s population will be asked to vote in some 70 elections. At the same time, however, data from the Varieties of Democracy Project (V-Dem) shows that the quality of democracy is declining around the world and that autocratisation, often described as the regression of democracy, is occurring in several places. Last Tuesday, Vice-President of the European Parliament Dr Katarina Barley, MEP Prof. Dr Sven Simon and Prof. Dr Rainer Forst (Director of the Research Centre Normative Orders at the Goethe University Frankfurt) discussed the state of democratic regression 100 days after the European elections. The event was part of the Crisis Talks series organised by the Leibniz Research Alliance CrisEn , the Research Centre Normative Orders and the European Office of the Leibniz Association in coordination with the Representation of the State of Hessen at the EU.
After welcoming speeches by Dr Parinas Parhisi (RS Hessen) and Dr Stefan Kroll (PRIF), the event began with a keynote speech by Rainer Forst on the sociologically abstract concept of regression, which is essentially about authoritarian and anti-human rights actors who “invoke democracy and endanger it at the same time”. Specifically in relation to the EU, there is a “real paradox” in the fact that “parties have been elected to the Parliament that are opposed to the Parliament itself and to the principles of the EU”.
This is a profound attack on the understanding of democracy that must be resisted at all costs. Democracy should never be understood to mean that political power is used to dominate minorities in such a way that they are denied the opportunity to participate. Democracy is based on “respect for the rights of every human being as free and equal”. Not only to undermine these minimum standards, but to fight aggressively against them, and thus to succeed in elections, is far from being an expression of legitimate democracy, but rather a “triumph of unreason” that must be countered.
Katarina Barley then emphasised that this reinterpretation of democratic concepts is not accidental, but rather the core of regressive strategies. In her political practice, she has repeatedly experienced how terms are adopted, twisted at their core and actually used with anti-democratic intentions. The strengthening of the right in the European elections is now leading to these interpretations being normalised and upgraded in the political process. Sven Simon shares this observation, citing the inappropriate attacks on Commission President Ursula von der Leyen as another example. However, Simon also emphasises the clear pro-European majority in the Parliament, which stands in opposition to the regressive forces.
The panel had different perspectives on the issue of migration of asylum seekers. While Rainer Forst pointed to human rights as the central benchmark, Sven Simon emphasised the legal basis of migration, such as the requirement in the German constitution that the right to asylum cannot be claimed by anyone arriving from an EU country or a safe third country. The aim must also be not only to accept people, but also to offer them integration programmes, and this is where resources are ultimately limited. But it is also important – and this builds a bridge to the sovereignty of interpretation – not to leave the definition of the challenges in the field of migration to the extremists. According to Forst, the fact that migration is always associated with concepts of threat and security also has an impact.
The final questions from the audience focused, among other things, on the possibility of extending direct democratic elements. While Sven Simon and Katharina Barley were clearly in favour of representative democracy, Rainer Forst once again emphasised the potential of democracy beyond elections – democracy is more than just “counting ballots”.
Der Philosoph und Direktor des Forschungszentrums „Normative Ordnungen“ Prof. Dr. Rainer Forst feierte am 15. August 2024 seinen 60. Geburtstag. Aus diesem Anlass erschien im Suhrkamp-Verlag die Festschrift „Die Macht der Rechtfertigung – Perspektiven einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit“, in der sich international renommierte Denkerinnen und Denker mit seinem umfangreichen Werk auseinandersetzen.
1964 in Wiesbaden geboren, studierte Forst Philosophie, Politikwissenschaft und Amerikanistik in Frankfurt am Main, New York und Harvard. 1993 promovierte er mit einer Dissertation über Theorien zu politischer und sozialer Gerechtigkeit bei Jürgen Habermas, 2003 habilitierte er sich (damals als Assistent von Axel Honneth) mit seinem Buch „Toleranz im Konflikt“. Neben mehreren Gastprofessuren ist Forst Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt; er lehnte diverse Rufe ins In-und Ausland (darunter Chicago, Princeton, Berlin) ab. Im Jahr 2012 erhielt er den Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
Rainer Forst gilt als bedeutender Vertreter der sogenannten „dritten Generation“ der Frankfurter Schule und ist insbesondere für seine Arbeiten zur Theorie der Gerechtigkeit, Demokratie, Toleranz, Macht und Freiheit bekannt. Sein umfassendes Werk wird international breit diskutiert und hat die Philosophie, die politische Theorie sowie politische Diskussionen der Gegenwart erheblich beeinflusst. Das Buch „Die Macht der Rechtfertigung“ versammelt Beiträge namhafter Denkerinnen und Denker, die die vielfältigen Aspekte von Forsts Werk diskutieren und damit zugleich einen Einblick in die neuesten Entwicklungen innerhalb der Kritischen Theorie geben. Herausgegeben wurde es von Mahmoud Bassiouni, Eva Buddeberg, Mattias Iser, Anja Karnein und Martin Saar.
Wir gratulieren Rainer Forst noch einmal von Herzen zu seinem besonderen Geburtstag, verbunden mit allen guten Wünschen für die kommenden Jahre seines akademischen Wirkens, nicht nur in unserer internationalen wissenschaftlichen Community, die Glückwünsche von nah und fern gesendet hat. Wir wünschen ihm vor allem alles Gute und viel Freude für die vielen weiteren Jahre seines Wirkens hier an der Goethe Universität und natürlich hier mit uns bei den Normativen Ordnungen. Wir freuen uns darauf!
Der Ethnologe und Religionswissenschaftler Karl-Heinz Kohl erhält den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2024. Die Auszeichnung gehe an den Wissenschaftler, da sein Werk durch eine „Klarheit der Darstellung besticht und damit unsere historische Urteilskraft zu schärfen vermag“, so die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in ihrer Pressemitteilung.
Karl-Heinz Kohl ist Mitglied des Forschungszentrums Normative Orders und war bis zu seiner Emeritierung Professor für Ethnologie an der Goethe-Universität sowie Leiter des Frobenius-Instituts für kulturanthropologische Forschung. Seine Arbeiten drehen sich um das Verhältnis von Europäer:innen zu indigenen Kulturen. Dazu betrieb der Ethnologe unter anderem Feldforschung in Ostindonesien und analysierte den Fetischbegriff von Karl Marx und Sigmund Freut aus der Perspektive indigener Kulturen. In seinem neuesten, in diesem Jahr erscheinenen Buch „Neun Stämme. Das Erbe der Indigenen und die Wurzeln der Moderne“ beleuchtet Karl-Heinz Kohl die Wechselwirkungen und Vermittlungen zwischen indigenen Kulturen und dem Westen. Seine Werke leben stets besonders von der Vermittlung zwischen Reflexion und Anschauung.
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa wird jährlich von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergeben. Er ist mit 20.000 Euro dotiert und wird in diesem Jahr zusammen mit dem Gorg-Büchner-Preis am 2. November 2024 in Darmstadt verliehen.
Weitere Informationen zum Sigmund-Freud-Preis: Hier…
Der Newsletter aus dem Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ versammelt Informationen über aktuelle Veranstaltungen, Neuigkeiten und Veröffentlichungen. Zur Ausgabe 02/24: Hier…
Im Bezug auf gute Gesundheit gibt es weltweit gewaltige Unterschiede. Während manche Menschen in der Lage sind, lange Leben mit Zugang zu qualitativer medizinischer Behandlung zu führen, ist für andere die durchschnittliche Lebenszeit im Vergleich deutlich verkürzt, was sich beispielsweise an der Prävalenz vermeidbarer Krankheiten und der Todesrate von Kindern gut veranschaulichen lässt. Während der Covid-19-Pandemie waren die globalen Asymmetrien im Bezug auf Gesundheitsthemen außerdem besonders sichtbar.
Die Konferenz „Global Health Justice: Bridging Theory & Practice“ bringt nun renommierte Theoretiker:innen und empirische Forscher:innen des Forschungsfeldes der Global Health Justice sowie Praktiker:innen der Gesundheitsarbeit zusammen, um die Lücke zwischen Theorie und Praxis bei globaler Gesundheit zu diskutieren und zu verkleinern. Dazu werden auf der Konferenz voraussichtlich zwei Keynotes und drei Panels abgehalten, in denen unter anderem Theorien des Forschungsfeldes zwischen Bioethik, politischer Philosophie und Recht, Erfahrungen aus der Praxis sowie gegenwärtigen Gesundheitsproblematiken diskutiert werden.
Die Veranstaltung wird vom Global Health Justice-Programm der Goethe-Universität, das von der Höppschen Stiftung finanziert wird, sowie vom Forschungszentrum Normative Ordnungen ausgerichtet.
Zum Veranstaltungskalender: Hier… Zur Veranstaltungswebsite: Hier…
Für ihre Dissertation mit dem Titel „Relationalität der Menschenwürde. Zum gerechtigkeitstheoretischen Status von Menschen mit geistiger Behinderung“ wurde Dr. Regina Schidel mit dem WISAG-Preis 2024 ausgezeichnet. Mit dem Preis wird jährlich die beste sozial- oder geisteswissenschaftliche Dissertation, die sich mit Prozessen und Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts befasst ausgezeichnet. Der Preis ist mit 5.000 € dotiert und wurde erstmals 2008 durch den Firmengründer Claus Wisser († 2023) getiftet. Dr. Regina Schidel ist gegenwärtig Postdoktorandin der Forschungsinitiative „ConTrust – Vertrauen im Konflikt“ am Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ und verfasste die Arbeit am Institut für Politikwissenschaft und am Institut für Philosophie. Ihr Erstbetreuer war Prof. Dr. Rainer Forst. Ihre ausgezeichnete Arbeit analysiert die Diskriminierungsform des Ableismus, d.h. die Schlechterstellung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, aus philosophischer und gesellschaftstheoretischer Perspektive. Auf die Frage, was eine besondere Herausforderung während ihres Forschungsprozesses darstellte, antwortet die Preisträgerin: „Ich bin vor allem zu Beginn meiner Forschung auf Workshops und Fachtagungen immer wieder dem Vorurteil begegnet, Fragen der geistigen Behinderung und der Diskriminierung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen seien eigentlich gar nicht ‚philosophisch‘, weil Philosophie diejenige Disziplin sei, die sich doch mit Vernunft und vernünftiger Subjektivität beschäftige“.
Der Preis wird am 25. Juni ab 17 Uhr auf der Akademischen Feier der Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität e.V. auf dem Campus Westend der Goethe-Uniersität, Hörsaal A, SKW-Gebäude, verliehen. Weitere Informationen und Anmeldung zur Verleihung: Hier…
Mit welchem Recht darf ein Staat für sich Hoheitsgewalt beanspruchen? Wie muss das Handeln seiner Repräsentant:innen beschränkt werden, sodass dadurch keine herrschaftliche Willkür, sondern demokratische Selbstgesetzgebung zum Ausdruck kommt? Und wie müsste ein Begriff der Öffentlichkeit aussehen, der darauf Antworten liefert, die auf der Höhe der Zeit sind? Diesen Fragen stellt sich der kanadische Philosoph Arthur Ripstein in den anstehenden Frankfurt Lectures „The Idea of the Public: Two Kantian Themes“ am Montag und Dienstag, den 8. und 9. Juli 2024, jeweils um 18:15 Uhr im Raum EG.01 des Gebäudes „Normative Ordnungen“. Seine Antworten entwickelt Ripstein im Ausgang von der Philosophie Immanuel Kants, dessen Geburtstag sich dieses Jahr zum 300. gejährt hat, der aber immer noch Problemlösungen für die Herausforderungen der Gegenwart parat hält. Die erste Vorlesung „The Idea of the Public“ am 8. Juli widmet sich der Grundsatzfrage nach der Rechtfertigung für staatliche Hoheitsrechte, etwa Steuern zu erheben oder Verbrechen zu bestrafen. Ripstein grenzt seinen kantischen Ansatz eines genuin öffentlichen Vernunftgebrauchs von gängigen wissenschaftlichen Positionen ab und gibt dem demokratischen Rechtsstaat dadurch eine neue Grundlage. Die zweite Vorlesung am 9. Juli wendet sich unter dem Titel „Giving Laws to Ourselves“ dem Problem zu, dass jede Ausübung öffentlicher Macht letztlich von Entscheidungsträger:innen abhängt, die individuelle Faktoren in ihre Handlungen einfließen lassen. Es erhebt sich daher die schwierige Frage, wie deren mögliche Willkür so eingegrenzt werden sollte, dass die Entscheidungen auch seitens der von ihnen Betroffenen als Ausdruck von Selbstgesetzgebung verstanden werden können.
Am 18. Juni wird Jürgen Habermas, der die Geistes- und Sozialwissenschaften der Goethe-Universität nachhaltig geprägt hat, 95 Jahre alt, und dazu sendet unsere wissenschaftliche Community, der er nach wie vor aktiv angehört, die herzlichsten Glückwünsche. Bis heute ist Habermas‘ wissenschaftliche und intellektuelle Stimme national und international eine der meistgehörten, und wir wünschen von Herzen, dass es noch lange so bleiben möge.
Wir erinnern uns mit großer Freude an den 90. Geburtstag, den die Normativen Ordnungen an unserer Universität ausrichteten und an dem Jürgen Habermas uns mit einem großen Vortrag, seinem letzten öffentlichen, beschenkte. Unter dem Titel „Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit“ ließ er die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe von Kant, Hegel und Marx Revue passieren und setzte sie zu seiner eigenen Philosophie in Beziehung. Er zeichnete die Überlegungen der drei Großen, die sein Denken stark bestimmt haben, bezüglich der Frage nach der Vernunft in der Geschichte nach und verlieh seiner letztlich moralisch begründeten Hoffnung Ausdruck, dass die Vernunft ihre Arbeit an einer Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse niemals, trotz aller Enttäuschungen, die der Lauf der Dinge bereithält, aufgeben darf. Dies schon um derer willen nicht, deren Kampf für Gerechtigkeit nicht vergebens gewesen sein soll, und angesichts der Vielen nicht, die unter Ungerechtigkeit leiden.
Dabei ist es in erster Linie Kant, dessen 300. Geburtstag wir im Frühjahr feierten, auf den Habermas sich beruft, wenn er an dem Imperativ festhält, die Zeiten, in denen wir leben, durch den „öffentlichen Gebrauch der Vernunft“ aufzuklären, also im Diskurs der Betroffenen selbst. Das ist sein Lebensthema, das sich durch all seine Schriften zieht: Emanzipation durch kommunikative Vernunft, die die Anstrengung auf sich nimmt, ihre eigenen, auch sozial und systemisch verursachten Blockaden zu erkennen und zu überwinden. Mit Hegel hält Habermas freilich daran fest, dass diese Arbeit sich vergangener Lernprozesse versichern muss, um daraus Orientierung und Ermutigung zu gewinnen. Und mit Marx schließlich besteht er darauf, dass es die Aufgabe der Philosophie und der Wissenschaften insgesamt ist, das individuelle und soziale Leben nicht nur zu verbessern, sondern von den Beschränkungen zu befreien, die ideologisch als naturgemäß und unabweislich verklärt werden. Dabei arbeitet die Vernunft wie ein „Maulwurf“, und zwar „im Modus der fehlbaren (…) Lernprozesse der vergesellschafteten Subjekte selber“.
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Mehr als 3000 Menschen verfolgten damals den Vortrag, und er bewies, auf welch besondere Weise Habermas das Denken der die Frankfurter Universität kennzeichnenden kritischen Theorie verkörpert: Ein Denken, das theoretisch umfassend fundiert ist, und zwar in einem Zusammenspiel von Philosophie und Sozialwissenschaften, und zugleich praktisch orientiert ist, ohne die Komplexität der Vermittlungsstufen zwischen Theorie und Praxis zu verkennen. Habermas‘ Werk ist auch in dem Sinne einzigartig, dass er diese Vermittlung auf den Begriff bringt und sie zugleich mit seinen öffentlichen Interventionen praktiziert. Auch in den letzten Jahren hat er sich zu zentralen Fragen unserer Zeit pointiert zu Wort gemeldet – ob es das Schicksal Europas ist, die Weichenstellungen der Pandemiebekämpfung, der von Russland entfesselte Krieg in der Ukraine oder die Situation, die nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 nicht zuletzt in Deutschland entstanden ist.
Am Ende seines denkwürdigen Vortrags ließ Habermas die drei Perioden seines wissenschaftlichen Lebens, die er in Frankfurt verbrachte, kurz vorüberziehen: die Zeit als Assistent Adornos in der zweiten Hälfte der Fünfziger Jahre, die Zeit als Nachfolger Horkheimers auf dessen Professur in den Sechzigern und schließlich die Rückkehr in den Achtzigern nach Beendigung der Direktorenschaft des Max-Planck-Instituts in Starnberg. Die letzte Periode bezeichnete er als die „befriedigendste Zeit meines akademischen Lebens“ in der „freien Luft“ der Goethe-Universität, und er wünschte uns allen mit Blick auf die Gegenwart, dass der besondere, offene und kritische Geist, der diese Universität bis heute prägt, auf dem neuen Campus Westend sprießen und seine „schützenden Nischen“ finden möge. Dem sehen wir uns in unserer Arbeit verpflichtet, denn die Fragen, die wir als Schüler*innen und Kolleg*innen von Habermas mit ihm behandelt haben, insbesondere die nach der Zukunft der Demokratie, lassen uns nicht ruhen.
Seine jüngsten Werke nehmen diese Fragen auf und geben seinem Denken eine neue Wendung, wie es sich für eine Philosophie mit, wie Adorno es formulierte, „Zeitkern“ gehört. Im Anschluss an seinen Geburtstagsvortrag versammelten sich seinerzeit seine wichtigsten Weggefährt*innen zu einer zweitägigen Konferenz, um das im Erscheinen begriffene monumentale zweibändige Werk Auch eine Geschichte der Philosophie zu diskutieren. Auf eine Weise, die nur Habermas eigen ist, verfolgt er im Durchgang durch die Geschichte der westlichen Philosophie eine zentrale Idee, die in der Tradition der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno steht: die Kritik einseitiger Formen der Rationalität, die zu reduktionistischen Vorstellungen gesellschaftlicher Interaktion oder individuellen Handelns führen. In der Reflexion auf die Gefahren einer „entgleisenden Moderne“ spielt in diesem Buch der Dialog zwischen philosophischer Vernunft und religiösem Glauben eine entscheidende Rolle. Habermas rekonstruiert historisch bedeutsame Übersetzungsleistungen von der religiösen in eine säkulare Sprache, so in Bezug auf den Begriff der menschlichen Würde, fordert zugleich aber dazu auf, etwa angesichts bioethischer Herausforderungen diese Übersetzungsarbeit nicht als abgeschlossen zu betrachten. Das von Habermas ausgezeichnete „nachmetaphysische“ Denken schaut in diesem Werk auf seine eigene Genese zurück, sieht sich aber nicht als passives, kontingentes Produkt dieser Geschichte an. Die Vernunft schreibt ihre Geschichte von ihrem eigenen Standpunkt aus, sieht dabei aber, dass sie sich für weitere Lernprozesse offenhalten muss, wohl wissend, wie Habermas schreibt, dass die Vernunft, die an der Gegenwart klebte, „mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern“ würde.
Ein in diesem Jahr erschienener Band mit dem Titel Vernünftige Freiheit diskutiert diesen Ansatz und enthält eine beeindruckende, ausführliche Replik von Habermas auf eine große Zahl detaillierter Kritiken. Hier zeigt sich seine Philosophie einerseits, wie Hegel sagte, als ihre Zeit in Gedanken gefasst, weist zugleich aber weit zurück auf frühere Epochen der Philosophie und nach vorne, auf die Herausforderungen der Zukunft.
Ein weiteres jüngst erschienenes Buch von Habermas wirft eine nicht minder aktuelle Frage auf, diesmal stärker soziologisch informiert. Ihm zufolge muss der Begriff der kommunikativen Vernunft einerseits philosophisch entfaltet werden; andererseits aber ist die Realisierung dieser Form der Rationalität eine Frage, für die es der Sozial- und Rechtswissenschaften bedarf. So kehrt er in Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit sechzig Jahre nach dem Erscheinen seiner Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit zu diesem Thema zurück. Das Buch, das jüngst der Gegenstand einer Tagung mit ihm gemeinsam war, zeigt die Möglichkeiten, aber besonders die Gefährdungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs und einer informierten politischen Öffentlichkeit unter den neuen Medienbedingungen unserer Zeit auf; seine Sorge gilt insbesondere dem Einfluss der neuen sozialen Medien und ihrer Tendenz zur Fragmentierung der Öffentlichkeit und der Aufspaltung in „Halböffentlichkeiten“, die ihre eigenen Wahrheiten produzieren. Ob unter diesen Bedingungen an einem Ideal „deliberativer Demokratie“ festgehalten werden kann, ist eine Frage, die Habermas wie auch viele andere umtreibt. Denn demokratische Selbstregierung, politische Autonomie, setzt einen gemeinsam geteilten Raum politischer Rechtfertigung voraus, der stets neu erschaffen, aber auch dort, wo er besteht, erhalten werden muss.
Dieses Verständnis der Autonomie ist es denn auch, das Habermas in seinem großen Vortrag vor fünf Jahren eindrucksvoll in Erinnerung rief, indem er sagte: „Nur die Freiheit erfüllt den Begriff der Autonomie, von der wir wissen, dass niemand wirklich frei ist, bevor es nicht alle sind.“
Nicht nur Schüler wie der Autor dieser Zeilen schulden Jürgen Habermas Dank dafür, diesen Gedanken ins Zentrum seines philosophischen, aber auch seines gesellschaftstheoretischen Werks gerückt zu haben. Es ist in seiner Breite und Tiefe singulär in einer wissenschaftlichen Landschaft, die sich immer weiter spezialisiert und beschränkt.
Wir gratulieren noch einmal von Herzen und hoffen auf viele weitere Möglichkeiten zum gemeinsamen Denken.
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie an der Goethe-Universität und Direktor des Forschungszentrums Normative Ordnungen.