FRANKFURT Bei den Römerberggesprächen wird über die weltpolitische Lage diskutiert
Viele machen sich Sorgen um den Westen. Das zumindest war der Eindruck, den gewinnen konnte, wer am Samstagmorgen das Schauspiel betrat. In wenigen Minuten sollten die 57. Römerberggespräche beginnen, die dieses Mal unter dem Titel „Das Ende des Westens – Wie geht es weiter?“ standen. Die Menschenschlange, die vor dem Chagallsaal auf Einlass wartete, reichte bis zur gegenüberliegenden Cafeteria, machte eine Kurve und endete erst auf der Treppe. Drinnen erwartete die Besucher wenig später eine abwechslungsreiche Mischung von Vorträgen, die sich mit der Geschichte des Westens befassten, das Verhältnis der amerikanischen Rechten zu Russland ausloteten oder den Entstehungsprozess von Autokratien nachzuzeichnen suchten.
Der hessische Wissenschaftsminister Timon Gremmels (SPD) lobte in seinem Grußwort die Aktualität der Fragestellung. „Die Krise des Westens war nie so groß wie jetzt“, sagte er. In seiner Rolle blicke er besonders kritisch auf Praktiken der neuen amerikanischen Regierung, unliebsame Forschung per Dekret zu verbieten. Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) betonte die historische Verbindung Frankfurts mit den Vereinigten Staaten. Für einen „Abgesang auf den Westen“ sei es zu früh, sagte sie, auch wenn er stark geschwächt sei. Hartwig warb für neue Debatten, um die Werte, die in der Idee des „Westens“ enthalten seien, „zeitgenössisch und europäisch“ zu verankern.
Einen pessimistischeren Ton schlug der Politikwissenschaftler Claus Leggewie in seinem Vortrag an, der den Westen als eine faktenbasierte und pluralistische Entität von gleich drei Fronten her angegriffen sah, deren Vertreter sein Wesen vor allem von innen heraus zerstörten: internationale Rechtsextreme, Islamisten und russische Ultranationalisten. Ihnen gemein sei, dass sie den Pluralismus radikal auslöschen wollten. Donald Trump sei hier ein vierter Akteur, kürzlich hinzugekommen, der den Westen von innen „zerfrisst“. So wolle er viele liberale Errungenschaften, wie fast sämtliche internationale Zusammenarbeit und Verträge des 20. Jahrhunderts, rückabwickeln. Europa brauche nun ein „demütiges zuversichtliches Selbstbewusstsein“.
Die Journalistin Annika Brockschmidt machte im Gespräch mit der russischen Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa vor allem Gemeinsamkeiten zwischen den Rechten in den Vereinigten Staaten und denen in Russland aus. Bis zum Zerfall der Sowjetunion sei der Antikommunismus der ideologische Klebstoff der amerikanischen Rechten gewesen. Seitdem sei der „kleinste gemeinsame Nenner“ der christliche Nationalismus geworden, der sich ideologisch gut vertrage mit dem christlich-orthodoxen russischen Nationalismus. Die „Checks and Balances“, die die Stabilität der Demokratie sichern sollen, hälfen bei dieser Zuwendung vieler Amerikaner zum Autoritären nur wenig. Das nichtgewählte Quasi-Kabinettsmitglied Elon Musk „steckt sicher keiner ins Gefängnis, Geldstrafen jucken den nicht“.
Der Berliner Historiker Sebastian Conrad verwies in seinem Vortrag darauf, dass der Begriff des Westens gegenwärtig zum einen von rechten Kräften genutzt werde, um migrationskritisch und anti-woke zu argumentieren. Zum anderen werde er von Politikern als Begründung für Handlungen über Sachverhalte „gekleistert“, im Sinne einer Verteidigung „westlicher Werte“, bei der auch unliebsame Staaten wie Ungarn zum Westen gezählt würden. Damit sei vielfach nicht klar, was mit Westen genau gemeint sei: lediglich eine geographische oder aber eine wertegeleitete Zuordnung zu einer Gruppe?
Der Politikwissenschaftler Gunther Hellmann sah in seinem Vortrag eine autoritäre Großmächtesituation entstehen, die sich sowohl von der bipolaren Weltordnung des Kalten Kriegs als auch von der multipolaren Weltordnung seit 1991 unterscheide. Sie ersetze die regelbasierte Weltordnung durch eine, in der kurzfristige Deals überwögen. Die Europäer seien als Multilateralisten nach innen wie nach außen Einzelgänger geworden. Merz stehe daher als neuer Kanzler in der Pflicht, Deutschland und Europa mehr und mehr von den Vereinigten Staaten unabhängig zu machen. Der lange Diskussionstag, dem bis zuletzt auch Menschen vor dem Saal zuhörten, die keinen Platz gefunden hatten, ließ das Publikum vor allem mit einer Gewissheit zurück: Es kommen unangenehme Zeiten auf Deutschland und Europa zu.
Von Ole Kaiser aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 17.03.2025, Nr. 64, Rhein-Main-Zeitung, S. 10. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv