Forschungsprojekte 2007-2012
Projektleitung: Prof. Dr. Peter Niesen
Eine besondere Schwierigkeit politischer Normativitätskonzeptionen (in einem traditionellen Verständnis von „politisch“ als „kollektiv verbindliche Entscheidungen betreffend“) liegt in ihrem Janusgesicht als einerseits Legitimität, also Folgeerwartung beanspruchend, als andererseits gewaltsam durchsetzbar. Ihre doppelte Verbindlichkeit entlastet die handelnden Subjekte von der Notwendigkeit permanenter Vernunftsteuerung, hält zugleich aber die Unterstellung aufrecht, dass eine vernunftgemäße Rechtfertigung für normenkonformes Handeln zur Verfügung steht.
Die Grundlagen politischer Normativität sind in der praktischen Philosophie heute mehr denn je umstritten. Dies betrifft ihren Skopus: richtet sich politische Normativität auf territorial eingehegte Bevölkerungen oder auf gesellschaftliche Sektoren von Betroffenen? Kontrovers sind weiterhin ihre definierenden Eigenschaften: kann etwa in Kontexten jenseits des Staates, für die geeignete Zwangsmittel nicht zur Verfügung stehen, dennoch von genuin politischer Normativität die Rede sein? Schließlich ist kontrovers, vor allem im Blick auf weltanschaulich pluralistische Gesellschaften, was die Geltungsgrundlagen politischer Normativität sind. Hier ist eine vorrangige Frage, ob solche Grundlagen im Singular oder im Plural vorgestellt werden sollen. Von zentraler Bedeutung ist für die Analyse der Geltungsgründe politischer Normativität daher das Konzept „öffentlicher Rechtfertigung“, das eingeführt wurde, um Praktiken politischer Normsetzung auf schmale, aber tragfähige gemeinsame Grundlagen zu stellen, ohne die kulturelle und ethische Pluralität politischer Akteure zu dementieren.
Das Projekt war in der normativen politischen Theorie angesiedelt. Die grundlegende Frage des Projekts war, wie man sich ein analytisch und normativ überzeugendes, aktuelles Verständnis politischer Normativität in systematischen Grundzügen vorstellen soll. Da es keine Geschichte des Begriffs ‚politische Normativität‘, keine klassischen Texte, keine Standardprobleme und -lösungen gibt, erschien es zunächst wichtig, das Begriffsfeld politischer Normativität von den Feldern verwandter Grundbegriffe wie politische Autorität, Legitimität, Gerechtigkeit und Souveränität abzugrenzen. Eine Parallele findet dies in jüngeren Entwicklungen in der Gerechtigkeitstheorie, etwa bei G.A. Cohen, wo Gerechtigkeit als moralischer Grundbegriff von Normen der optimal polity abgegrenzt wird. Politischer Normativität geht es ausschließlich um optimal polity. Bei einem einwöchigen explorativen Workshop innerhalb der Joint Sessions des European Consortium for Political Research haben Rainer Forst und Peter Niesen das Thema und den Grundbegriff mit einer Reihe hochkarätiger internationaler KollegInnen erörtert. („Politische Normativität“, ECPR Joint Sessions, Lissabon, 14.-19.4.2009).
Zu den wichtigsten Veranstaltungen im Forschungsprojekt zählten außerdem: „Transnational Political Participation“, Tagung mit David Owen und Rainer Bauböck, Bad Homburg 13.6.2009, die Section "Kantian Approaches to Political Normativity", ECPR General Conference Reykjavik, 25.-27.8.2011 mit Vilhjalmur Arnason, Arthur Ripstein, Caterina Deligiorgi und anderen; und „Respect and Public Justification“. Workshop mit Gerald Gaus, Rainer Forst und Steffen Ganghof, Darmstadt 2.12.2011.
Das Projekt identifizierte politische Normen nicht über einen genuin „politischen“ Geltungsanspruch oder ein Sachgebiet oder Wesen des Politischen, sondern über ihre Funktion, die mit Max Weber als Erzeugung kollektiver Verbindlichkeit gefasst wurde. Im Unterschied zu Weber werden auch solche Normen, die kollektive Verbindlichkeit nur beanspruchen, als politisch normativ verstanden (beispielsweise Menschenrechte oder bestimmte Forderungen der Gerechtigkeit). Das Verhältnis zwischen kollektiver Verbindlichkeit und Erzwingbarkeit ist noch weitgehend offen und unerforscht. Ist z.B. vertragliches Völkerrecht politisch normativ, wenn es, wie beispielsweise von Kant, als nicht-zwingend aufgefasst wird? Oliver Eberl und Peter Niesen haben in ihrem Kant-Kommentar (Niesen, Peter: Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden/Auszüge aus der Rechtslehre. Kommentar von Oliver Eberl und Peter Niesen. Suhrkamp Studienbibliothek, Berlin 2011, 430 S.) die folgende Antwort herausgearbeitet: die (möglicherweise aus unabhängigen Gründen verworfene) Möglichkeit der Erzwingung ist entscheidend für eine genuin politische Normativität von Normen, nicht ihre faktische Erzwingung: solche Normen sind für Kant „Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist“.
Aus der Perspektive einer internationalen politischen Theorie ist eine wichtige Frage, ob es politische Normativität überhaupt jenseits eines politischen Systems geben kann. Für die Vorgängerdisziplin der internationalen politischen Theorie, das Völkernaturrecht, war das selbstverständlich. Nicht alle kosmopolitischen Konzeptionen in der gegenwärtigen Gerechtigkeitstheorie nehmen die daraus resultierende naturrechtliche Erblast ernst genug, indem sie zwischen institutioneller Gebotenheit und gerechtfertigter Erzwingbarkeit nicht unterscheiden, im Gegenteil: in den Bereichen globaler distributiver Gerechtigkeit und, vor allem, in neuen Entwicklungen der Theorie des Gerechten Krieges werden moralische, naturrechtliche und politische Gesichtspunkt in einem undifferenzierten Verständnis gerechter Erzwingung zusammengeführt (Niesen, Peter (2010) Internationale Politische Theorie - Eine disziplinengeschichtliche Einordnung, Zeitschrift für Internationale Beziehungen 17, 2, 267-277). Im Gegensatz dazu zeigt das Werk der amerikanischen Philosophin Iris Marion Young (Niesen, Peter (2013) (Hg.). Zwischen Gerechtigkeit und Demokratie. Iris Marion Youngs Theorie politischer Normativität. Baden-Baden: Nomos), wie auch jenseits der Grenzen politischer Systeme Gerechtigkeitsforderungen entstehen, die keinen unmittelbar erzwingbaren Charakter aufweisen, aber als Pflichten zur Institutionalisierung genuin politische Normativität entfalten. Politische Normativität kann also auch Regeln und Prinzipien anhaften, deren Erzwingbarkeit allererst historisch instituiert werden muss.
Wenn die Möglichkeit ihrer zwangsweisen Verbindlichkeit die politische Normativität von Normen konstituiert, stellt sich schließlich die Frage nach der Zumutbarkeit von Zwang. Im Rahmen des Projekts haben wir diese Frage in Ansätzen zu einer Theorie öffentlichen Vernunftgebrauchs erörtert: Öffentliche Rechtfertigung, und damit auch das Bestehen einer Sphäre politischer Öffentlichkeit, fassen Enrico Zoffoli und ich inzwischen als notwendige (wenn auch nicht als hinreichende) Bedingung für die Einlösung politischer Normativität (Niesen, Peter (2011), Legitimacy without Morality. Habermas and Maus on the Relationship between Law and Morality, in C. Ungureanu/C. Joerges/K. Günther (Hg.), Jürgen Habermas. Avebury: Ashgate, Vol. I, 123-146). Wir haben versucht, das an Theorien der Publizität von Kant über Bentham bis Habermas zu zeigen. Die Dissertation von Enrico Zoffoli beschäftigt sich mit Konzeptionen des öffentlichen Vernunftgebrauchs in der Habermasianischen (vgl. auch Zoffoli, Enrico (2010): La soluzione habermasiana al particolarismo dei valori, Trauben, Turin, 126 S) und der analytischen Tradition. Zoffoli kombiniert eine an Klaus Günther anschließende Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskursen, die er auf die Prinzipien des öffentlichen Vernunftgebrauchs bezieht, mit epistemologischen und metaethischen Argumenten aus der Rechtfertigungstheorie, um eine an Gerald Gaus, John Rawls, Ronald Dworkin und Rainer Forst anknüpfende konstruktive Position zum demokratischen Vernunftgebrauch zu erarbeiten (Zoffoli, Enrico (2012) The Place of Comprehensive Doctrines in Political Liberalism. On Some Common Misgivings about the Subject and Function of the Overlapping Consensus. Res Publica 18, 4, 351-66). Die daraus hervorgegangene Monografie ist erschienen als: Zoffoli, Enrico (2013): Beyond Consensus. Public Reason and the Role of Convergence. Baden-Baden: Nomos.
Projektleitung: Prof. Dr. Thomas M. Schmidt
Moderne Prinzipien der Normativität fordern das Selbstverständnis religiöser Gemeinschaften heraus. Es sind nicht nur liberale und demokratische Prinzipien der Rechtstaatlichkeit, sondern auch die rationalen Standards und fallibilistischen Kriterien der empirischen Wissenschaften, welche die herkömmlichen Selbstdeutungen der Religionen genauso stark tangieren, wie die Erfahrung einer intensivierten Begegnung unterschiedlicher religiöser Traditionen unter den Bedingungen gleichberechtigter Koexistenz in einer pluralistischen Gesellschaft.
Inhaltlich betrachtet bewegen sich Religionen im Spannungsfeld zwischen Ritualen und einer spezifischen Reflexivität, die in Form von doktrinalen Lehrgehalten und ihrer dogmatischen Kodifizierung und institutionalisierten Weitergabe besteht. Religiöse Überzeugungen besitzen eine narrative Basis, affektiven und volitionalen Charakter, erheben aber zugleich kognitive Geltungsansprüche. Daher ist die Spannung zwischen lebensweltlich situierter Partikularität und geltungstheoretischer Universalität in die Struktur religiöser Überzeugungen eingebaut. Diese spezifische normative Verbindlichkeit religiöser Überzeugungen gilt nicht nur in epistemologischer Hinsicht, sondern gerade im Blick auf die Grundbegriffe politischer und rechtlicher Normativität. Die Janusgestalt religiöser Überzeugungen wird methodisch reflektiert durch die unterschiedlichen Wissenschaften von der Religion. Während die Religionswissenschaften dabei häufig aus einer vergleichend empirisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive operieren, reflektiert die universitäre Theologie jenes Spannungsverhältnis von Partikularität und Universalität, von Narrativität und Rechtfertigung mit Mitteln wissenschaftlicher Argumentation, aber aus der Binnenperspektive einer bestimmten religiösen Tradition. Eine besondere Aufgabe kam in diesem Verbund der Religionsphilosophie zu, welche als Epistemologie religiöser Überzeugungen die Geltungsdimension, das Verhältnis von Rechtfertigung und Narrativität, ausdrücklich thematisiert.
Ein wichtiger methodischer Schritt bestand in der Rekonstruktion sowohl der Dramatik der interreligiösen Begegnung als auch der Konfrontation religiöser Vorstellungen mit säkularen Standards in Begriffen unterschiedlicher normativer Strukturen mit je eigenen Geltungsansprüchen. Besonders relevante Aspekte der Begegnung ließen sich so entlang eines Spektrums benennen, das von der Frage nach den Möglichkeiten angemessener wechselseitiger Kenntnisnahme ausgeht und über solche nach den Möglichkeiten kritischer Stellungnahme bis zu einer Bestimmung der Bedingungen kulturübergreifender Rechtfertigungsmöglichkeiten fragt. Als primäre theoretische Bezugspunkte haben sich hierbei die Ansätze von Robert Brandom und John Rawls bewährt.
Dieser Zusammenhang ergab sich aus den Kernüberlegungen, wonach jeder bedeutungsvolle Ausdruck eine normative Dimension dadurch hat, dass er eine Festlegung beinhaltet und mit Verpflichtungen zu inferentiell weitergehenden Festlegungen verbunden ist. Jede Bedeutung ist konstituiert durch eine soziale Praxis des Gebens und Einforderns von Gründen. Bedeutung ist verbunden mit Rechtfertigung.
Auf der Basis der von Brandom entwickelten inferentiellen Semantik und normativen Pragmatik lassen sich die zentralen kommunikativen Elemente auch im interreligiösen Kontakt bestimmen und darstellen, d.h. die Geltungsansprüche auf kontexttranszendierende Geltung, Wahrheit und Objektivität der Aussagen kann rein innerperspektivisch-strukturell sinnvoll beschrieben werden, ohne eine übergeordnete Perspektive und damit verbundene ethnozentrische Reduktionismen zu fördern. In Ergänzung hierzu lassen sich dann im Anschluss an Rawls verfahrensbezogene Strukturelemente einer kulturübergreifenden Rechtfertigungspraxis nach wünschenswerten fairen und demokratischen Maßstäben ermitteln. Hinzu kommt hier die politische Dimension der Institutionalisierung interkultureller Begegnung und mit ihr die Frage nach den Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs. Eine als argumentativer Bezugspunkt in der Applikation der Konzepte von Brandom und Rawls für den Problemhorizont interkultureller Begegnung hilfreiche Hintergrundkonzeption benennt auf diesem Weg Differenzierung sprachlicher Strukturen in Hinblick auf ihre normative Reichweite – Differenzierungen, mit deren Hilfe sich die für die interkulturelle Begegnung als zentral erachtete Fragen nach den Möglichkeiten wechselseitiger Kenntnis- und Stellungnahme sowie Rechtfertigung detaillierter darstellen und verorten lassen.
Zu den wichtigsten Publikationen des Forschungsprojektes zählen: Schmidt, Thomas M., Discorso Religioso e Religione Discorsiva nella Societá Postsecolare (trad. e cura di Leonardo Ceppa), Torino: Trauben 2009; Schmidt, Thomas M./Wenzel, Knut (Hrsg.), Moderne Religion? Theologische und religionsphilosophische Reaktionen auf Jürgen Habermas (hrsg. mit Knut Wenzel), Freiburg-Basel-Wein: Herder 2009; und Schmidt, Karsten, Buddhismus als Religion und Philosophie. Probleme und Perspektiven interkulturellen Verstehens, Stuttgart: W. Kohlhammer 2010.
Zu den wichtigsten Veranstaltungen des Forschungsprojektes gehören das Symposion: „Religiöse Geltungsansprüche in der Verantwortung öffentlicher Vernunft“, Gästehaus der Goethe-Universität, 4.-6. Dezember 2008, der Workshop: „De-Legitimierung von Staatlichkeit: Menschenrechtsaktivismus als Religionsersatz?“, Forschungskolleg Humanwissenschaften Bad Homburg, 26.-27. Februar 2010 und der Workshop: „Ausbreitung von Religionen und Neutralisierung von gesellschaftlichen Räumen“, Forschungskolleg Humanwissenschaften Bad Homburg, 25.-27. Juni 2010.
Weiterführende Fragestellungen: Die Rolle religiös gefärbter Rechtfertigungen bei der Herausbildung normativer Ordnungen in historischen und zeitgenössischen Gesellschaften innerhalb und außerhalb Europas hat sich als ein fruchtbares Thema im Anschluss an die Forschungen in diesem Teilprojekt erwiesen. Eine zentrales Problem sind dabei das Anwachsen und die Minderung der Bedeutung religiös begründeter Geltungsansprüche.
Unter den dabei gebräuchlichen Begriffen hat der des Postsäkularismus eine besondere Bedeutung. Dieser Terminus bringt die von manchen Theoretikern vertretene Auffassung zum Ausdruck, dass angesichts der neuen Vitalität religiöser Bewegungen und Lebensformen in vielen Teilen der Welt nicht mehr einfachhin von den modernen Gesellschaften als notwendigerweise säkularisierten Gesellschaften gesprochen werden kann; auch von Desäkularisierung ist bisweilen die Rede. Diese These sollte geprüft und weiter verfolgt werden, etwa unter der Frage, inwieweit es Verbindungen zwischen „Postsäkularismus“ und „Postkolonialismus“, der den Begriff der Religion auf seine europäische Prägung hin untersucht, gibt oder inwieweit die Geschlechterverhältnisse davon berührt sind. Reflektiert werden muss dabei auch der ältere, weiter gebräuchliche Begriff der Säkularisierung, der sowohl historisch-analytisch als auch normativ, sowohl epochenbezogen als auch als allgemeinhistorische Kategorie verwendet wird, der aber auch schon vor dem Aufkommen von Vorstellungen des Postsäkularismus in der Kritik stand. Ferner verdient der Begriff der Neutralisierung, der in deutschen Gegenwartsdebatten prominent ist, Beachtung, da er auch die zeitweilige Entfernung religiöser Symbole in einer Welt meint, in der Religion weiterhin bedeutsam ist. Vor diesem Hintergrund sollte historisch und räumlich vergleichend danach gefragt werden, wie normative Ordnungen entstehen (und vergehen), in denen sich die Bedeutung der Religion für die normative Ordnung erheblich wandelt, in denen vielleicht auch das Schweigen über religiöse Differenzen zur Norm wird. Die Untersuchung diese Fragen wurde in der zweiten Laufzeit im Projekt „Genese und Geltung des Konzepts des Säkularen“ fortgeführt.
ProjektleiterInnen: Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, Prof. Dr. Rainer Forst, Prof. Dr. Peter Niesen und Prof. Dr. Klaus Dieter Wolf
Dieses kooperative Projekt aus Politischer Theorie und Internationalen Beziehungen fragte nach den normativen Begriffen und der Empirie der Herausbildung transnationaler politischer Ordnungen. Die konkretere Fragestellung des Projekts richtete sich auf die Bedeutung von „Gerechtigkeit“ und „Demokratie“ jenseits der Einzelstaaten und das Verhältnis zwischen ihnen. Beide Grundbegriffe des politischen Denkens waren ursprünglich auf staatliche Gemeinwesen bezogen und müssen auf ihre anhaltende Angemessenheit überprüft werden, nachdem die Einhegung von Problemen und die Bereitstellung von Lösungen in vielen Politikfeldern nicht mehr von den Einzelstaaten geleistet werden können. Die institutionellen Reaktionen auf die Globalisierung lassen sich grob in vier ganz unterschiedliche Modelle einordnen, die nicht nur aufgrund ihrer empirischen Prävalenz, sondern auch auf der Basis von sich abzeichnenden charakteristischen Legitimationsbestrebungen ausgewählt wurden: I. deliberativer Internationalismus (Nicole Deitelhoff), II. supranationales Regieren (Peter Niesen), III. transnationale 'governance without government' (Klaus Dieter Wolf), IV. transnationale Demokratisierung durch die Etablierung diverser Rechtfertigungspraktiken (Rainer Forst).
Die im Projektantrag skizzierte skeptische Gegenposition, die weder den Gerechtigkeits- noch den Demokratiebegriff auf Kontexte jenseits der Einzelstaaten für anwendbar hält, hat sich nicht behaupten können. Das bedeutet nicht, dass Standards von Gerechtigkeit und Demokratie reflexhaft auf beliebige Kontexte angewendet werden können, ohne sich vorher deren innerer Struktur versichert zu haben. In einer Gerechtigkeitstheorie mit politischem Anspruch führt ein rein güter- und empfängerzentriertes Denken dazu, die politischen Grundprämissen der Gerechtigkeit aus dem Blick zu verlieren – national wie über die Staaten hinaus (Forst, Rainer (2009): „Zwei Bilder der Gerechtigkeit“, in: Rainer Forst/Martin Hartmann/Rahel Jaeggi/Martin Saar (Hg.), Sozialphilosophie und Kritik, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 205-228; Forst, Rainer (2012): „Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie. Zur Überwindung von drei Dogmen der politischen Theorie“, in: Peter Niesen (Hg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, Frankfurt a.M./New York: Campus, 29-48; englische Übersetzung (von Ciaran Cronin) (2013): „Transnational Justice and Democracy. Overcoming Three Dogmas of Political Theory“, in: Eva Erman/Sofia Näsström (Hg.), Political Equality in Transnational Democracy, New York: Palgrave Macmillan, 41-59). Das Ausblenden der Akteursperspektive setzt sich dem Vorwurf aus, die politische Ordnung letztlich naturrechtlich zu fundieren (Niesen, Peter (2010): „Internationale Politische Theorie – Eine disziplinengeschichtliche Einordnung“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 17(2), 267-277). Die praxisinterne Logik von Gerechtigkeitsforderungen lässt sich nur dann entwickeln, wenn bei bestehenden intersubjektiven Gewalt-, Zwangs- und Austauschbeziehungen angesetzt wird, wie sie von Protestbewegungen skandalisiert werden – d.h., bei Beziehungen der Beherrschung (domination) (Forst, Rainer (2010): „Was ist und was soll Internationale Politische Theorie?”, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 17(2), 355-363). Gerechtigkeitsforderungen setzen eine Geschichte der Abhängigkeit und Verletzung voraus. Die Voraussetzung einer präexistierenden gemeinsamen Grundstruktur (Rawls) erscheint dagegen zu weitgehend und unflexibel, da sie nicht-institutionelle Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen für die Existenz von Gerechtigkeitsforderungen unberücksichtigt lassen muss. Eine politische Theorie der Gerechtigkeit kann plausibel machen, wie machtförmig strukturierte Interaktionen innerhalb und außerhalb von Institutionen politische Rechtfertigungspflichten und, in manchen Fällen, gerechtfertigte Forderungen nach neuen Formen der Institutionalisierung erzeugen (Forst, Rainer (2011): Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, Berlin: Suhrkamp; englische Übersetzung (von Ciaran Cronin) (2013): Justification and Critique.Towards a Critical Theory of Politics, Cambridge: Polity Press; italienische Übersetzung (von Enrico Zoffoli) (2013): Critica dei rapporti di giustificazione, Turin: Trauben; spanische Übersetzung (von Graciela Calderón) (2015): Justificación y crítica, Buenos Aires: Katz Editores), die dann ihrerseits auf Gerechtigkeit und demokratische Legitimität untersucht werden können. Nicht immer sind global artikulierte Forderungen nach Gerechtigkeit und Demokratie jedoch Forderungen nach globaler Gerechtigkeit und Demokratie: Manche Aufrufe von kosmopolitischer Reichweite sind konservativ in ihrer institutionellen Ausrichtung und auf die Reform von Einzelstaaten bezogen (Niesen, Peter (2011): „Demokratie jenseits der Einzelstaaten“, in: Andreas Niederberger/Philipp Schink (Hg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, 284-291; Niesen, Peter (2012), „Kosmopolitismus in einem Land“, in Peter Niesen (Hg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, Frankfurt a.M./New York: Campus, 311-339).
Wie die Anwendbarkeit des Ausdrucks „gerecht“ ist auch die Anwendbarkeit des Ausdrucks „demokratisch“ begrifflichen Standards unterworfen. Ein wichtiges Ergebnis der Forschungsinitiative ist, dass sich eine normative Konzeption des deliberativen Internationalismus, also horizontal-diskursiver Austauschbeziehungen zwischen Staaten, besser als ein fairness-, also gerechtigkeitsorientierter Ansatz denn als Theorie der Demokratisierung globaler Verhältnisse verstehen lässt. Die Legitimität zwischenstaatlicher Diskurse und Verhandlungen steigt mit ihrer Sensibilität für kulturelle Differenz und mit der materiellen Angleichung von Verhandlungspositionen (Deitelhoff, Nicole (2009): „Fairness oder Demokratie? Zu den Chancen deliberativer Verfahren im internationalen Regieren“, in: Brunkhorst, Hauke (Hg.): Demokratie in der Weltgesellschaft (Sonderband Soziale Welt), Baden-Baden: Nomos, 303-322; Deitelhoff, Nicole (2009): „The Discursive Process of Legalization. Charting Islands of Persuasion in the ICC case”, in: International Organization 63(1), 33-66). Demokratischen Maßstäben sind sie aber nur in Bezug auf die innere Organisation der beteiligten Staaten unterworfen. Anders verhält es sich mit Kontexten, in denen Herrschaftsbeziehungen auch jenseits des Staates diagnostiziert werden (Deitelhoff, Nicole (2012): „Is Fair Enough? Legitimation internationalen Regierens durch deliberative Verfahren“, in: Niesen, Peter (Hg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, Frankfurt a.M./New York: Campus, 103-130). Hier erscheint die Forderung nach „Gerechtigkeit statt Demokratie“ (Neyer) jenseits der Einzelstaaten kategorial unhaltbar (Forst, Rainer (2010): „Justice and Democracy. Comments on J. Neyer, ‘Justice, not Democracy’“, in: Rainer Forst/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Political Legitimacy and Democracy in Transnational Perspective (Recon Report), Oslo: Arena, 37-42), da sie Gerechtigkeitsforderungen nach Demokratisierung ignorieren muss (Niesen, Peter (2014), „Jürgen Neyer, The Justification of Europe“, Politische Vierteljahresschrift 55 (3), 555-557), ohne dass jedoch eine nachholende „kosmopolitische“ Demokratisierung eine alternativlose und unproblematische Antwort auf die Legitimitätsdefizite des Regierens jenseits des Staates wäre. Die staatsanaloge Demokratisierung jenseits der Einzelstaaten ist mit drei Problemen konfrontiert: Wie der Weg zur kosmopolitischen Demokratie auf friedlichem Wege zurückzulegen ist; was mit widerständigen, nicht-demokratischen Einzelstaaten geschehen soll; sowie schließlich, was aus der bereits vorhandenen Pluralität von Governance-Formen werden soll, die in einer Reihe von Politikfeldern auf dem Wege der privaten Selbstregulierung politische Steuerungsfunktionen wahrnehmen und dabei auch selbst politische Herrschaft ausüben. Supranationale Demokratisierung auf globaler Ebene soll daher zwei Bedingungen respektieren: Sie soll trotz ihrer rechtlichen Suprematie Sanktionsressourcen bei den Staaten belassen und in Bezug auf andere Koordinationsformen autonomieschonend vorgehen (Niesen, Peter (2011): „Demokratie jenseits der Einzelstaaaten“, in: Andreas Niederberger/Philipp Schink (Hg.), Globalisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart: Metzler, 284-291). Schließlich hat die Analyse transnationalen Regierens, also grenzüberschreitender Herrschaftsausübung, bei der private Akteure entscheidende Rollen übernehmen, eine weitere Verschiebung mit sich gebracht, die sich auch durch empirische Entwicklungen im Berichtszeitraum (globale Finanzkrise seit 2008) erhärten ließ. Die bisherige Konzentration auf die interne Demokratisierung von Governance-Strukturen auf der Basis ihrer Zugänglichkeit, Transparenz und Responsivität (Steffek/Nanz) wurde zugunsten einer stärker staatenzentrierten Perspektive verlassen. Die Reflexion des Legitimitätsbegriffs ergibt, dass legitimationsbedürftig weniger die internen Koordinationsformen sondern vielmehr die Vorgaben und Unterlassungen seitens öffentlicher Akteure (Staaten, zwischenstaatliche Institutionen) sind, in die die unterschiedlichen Formen der transnationalen privaten Selbstregulierung auch im Raum jenseits des Staates eingebettet sind und im Sinne einer Regulierung der Selbstregulierung rechtlich einhegt werden (Wolf, Klaus Dieter/Schwindenhammer, Sandra (2011): „Der Beitrag privater Sebstregulierung zu Global Governance“, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik 12(1), 10-28; Wolf, Klaus Dieter (2011): „Unternehmen als Normunternehmer: Global Governance und das Gemeinwohl“, in: Stefan Kadelbach/Klaus Günther (Hg.), Recht ohne Staat? Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung (Reihe: Normative Orders Bd. 4), Frankfurt a. M./New York: Campus, 101-118; Wolf, Klaus Dieter (2012): „Legitimitätsbedarf und Legitimation privater Selbstregulierung am Fall der lex sportiva“, in: Peter Niesen (Hg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie (Reihe: Normative Orders Bd. 6), Frankfurt a.M./New York: Campus, 189-214).
Im Ausgang des Projekts stand eine pluralistische Perspektive auf verschiedene neue Koordinationsformen und verschiedene legitimationsrelevante Akteure: staatliche, privat-korporative und kosmopolitische. Der gerechtigkeits- wie demokratietheoretische Alleinvertretungsanspruch staatlicher Gemeinwesen konnte zurückgewiesen werden. Genauso wenig ließ sich eine der unterschiedenen Koordinationsformen aus normativen Gründen privilegieren. Dennoch hat sich eine nicht bloß faktische, sondern legitimationstheoretische Resilienz des (sich transformierenden) Staates in drei Kontexten gezeigt. Erstens in der bleibenden Bedeutung horizontaler Verhandlungen und Diskurse zwischen Staaten, zweitens in der zunehmenden Bedeutung kosmopolitischer Öffnung der Einzelstaaten, drittens schließlich als bleibende Adressaten für die Funktionalität und Legitimität von Governance-Mechanismen. In Abgrenzung zu monistischen Konzeptionen, seien sie kosmopolitisch (Held) oder staatenzentriert (Rawls, Nagel, Maus), hat sich im Projektzusammenhang die Dynamik staatlicher Demokratie und zwischen- wie suprastaatlicher Koordination als zentraler Untersuchungsgegenstand legitimitätsorientierter Forschung aufgedrängt.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden durch alle beteiligten PIs zwei Workshops zum übergreifenden Forschungsthema „Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie“ organisiert, die beide am Forschungskolleg Humanwissenschaften in Bad Homburg stattfanden (Research Workshop, 25.06.2009; Abschlussworkshop, 16.09.2010).Beispielhaft für die aus dem Projekt entstandene Kooperation der beteiligten PIs waren zudem der Workshop „Europas Rechtfertigung“ (Workshop zum Buchprojekt von Jürgen Neyer „Europas Rechtfertigung“, Bad Homburg, 20.7.2010), das Panel „Staat, Demokratie, Gerechtigkeit in transnationalen Räumen“ im Rahmen des DVPW-Kongresses (25.9.2009) sowie die internationale Konferenz „Internationale Politische Theorie“ (10.-12.6.2010, gefördert von der DFG sowie von Exzellenzcluster und Nomos-Verlag), die gemeinsam organisiert und durchgeführt wurden von Prof. Niesen und Prof. Deitelhoff.
Zentrale Ergebnisse des Projekts wurden in einem Band veröffentlicht, der Beiträge der Projektleiter und weiterer am Projekt beteiligter Personen versammelt: Niesen, Peter (Hg.) (2012): Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie (Reihe: Normative Orders Bd. 6), Frankfurt a.M./New York: Campus.An dem Projekt waren neben den vier Projektleitern insgesamt sechs Mitarbeiter/innen bzw. Stipendiaten/innen beteiligt, die aus Mitteln des Exzellenzclusters finanziert wurden. Im Rahmen des Projekts entstanden dabei eine Reihe von Qualifizierungsarbeiten.
Andreas von Staden, Lisbeth Zimmermann, Friedrich Arndt, Angela Marciniak und Linda Wallbott waren am Darmstädter Standort an einem Forschungszusammenhang zum Umgang mit globalem Ordnungspluralismus beteiligt. Basierend auf intensiver gemeinsamer Arbeit der Darmstädter Projektmitarbeiter/innen zu globaler Demokratie und Gerechtigkeit in Anbetracht überlappender Ordnungen entstand ein Working Paper: Zimmermann, Lisbeth/von Staden, Andreas/Marciniak, Angela/Arndt, Friedrich (2010): „Pluralisierung normativer Ordnungen und resultierende Normkonflikte: Lösungsstrategien und ihr Erfolg“ (Normative Orders Working Paper 06/2010) und ein Zeitschriftenartikel: Zimmermann, Lisbeth/von Staden, Andreas/Marciniak, Angela/Arndt, Friedrich/Wallbott, Linda (2013): „Muss Ordnung sein? Zum Umgang mit Konflikten zwischen normativen Ordnungen“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 20(1), 35-60. Empirisch werden dort Legitimitäts- und Gerechtigkeitsansprüche der Beteiligten und Betroffenen beim Umgang mit Konflikten durch Ordnungspluralismus untersucht. Die Doktorand/innen waren insbesondere auch an der Organisation der ersten beiden Nachwuchskonferenzen des Clusters beteiligt. So organisierten im Rahmen der ersten Nachwuchskonferenz „Normative Ordnungen: Rechtfertigung und Sanktion“, (23.-25. Oktober 2009) Lisbeth Zimmermann und Linda Wallbott das Panel „Prozesse der Normdiffusion. Verbindung der internationalen und der lokalen Ebene“, und Friedrich Arndt: ein weiteres Panel zum Thema „Konzeptionalisierung globaler Ordnungen“.
Andreas von Staden beschäftigte sich im Projektzusammenhang außerdem mit der Frage von Legitimität beim Regieren jenseits des Nationalstaats, u.a. in einer Publikation zu Legitimitätsaspekten des europäischen Menschenrechtssystems (von Staden, Andreas (2009): „Legitimitätsaspekte des europäischen Menschenrechtssystems“, in: Ingo Take (Hg.), Legitimes Regieren jenseits des Nationalstaats: Unterschiedliche Formen von Global Governance im Vergleich, Baden-Baden: Nomos, 146-172). Er arbeitete zusätzlich zu Rule of Law jenseits des Nationalstaats. Zu diesem Thema entstanden ebenfalls mehrere Publikationen (u.a.:von Staden, Andreas/Burke-White, William (2010): Private Litigation in a Public Law Sphere: The Standard of Review in Investor-State Arbitrations, in: Yale Journal of International Law 35, 283-346; von Staden, Andreas (2012): „The democratic legitimacy of judicial review beyond the state“, in: International Journal of Constitutional Law 10, 1023-1049; von Staden, Andreas (2012): „Zur demokratischen Legitimität der Überprüfungstätigkeit internationaler Gerichtshöfe“, in: Peter Niesen (Hg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 215-250). Einige dieser Einzelveröffentlichungen bilden zugleich die Grundlagen seines PhD an der Universität Princeton, für welche er 2010 den Best Dissertation Award in der Human Rights Section der American Political Science Association (APSA) erhielt.
Lisbeth Zimmermann untersuchte im Rahmen ihres Dissertationsprojekts lokale Reaktionen auf die Förderung von Rechtstaatlichkeitsnormen in Postkonfliktstaaten. Sie analysierte in diesem Zusammenhang die Spannungen zwischen Vorstellungen gerechten und demokratischen Regierens auf globaler und auf lokaler Ebene und Lokalisierungsprozessen globaler Normvorstellungen. Zu diesem Thema organisierte sie einen deutschlandweiten Doktorandenworkshop („Jenseits der Normübernahme – Normlokalisierungsprozesse unter der Lupe“, HSFK, 30.09.-01.10.2010) und ein internationales Panel „New Approaches to the Study of Norm Diffusion“ (im Rahmen von ISA Annual Convention, 2013 in San Francisco). Zudem entstand in dem Themenbereich ein Aufsatz, der in einer englischsprachigen Zeitschrift erschien (Zimmermann, Lisbeth (2014): „Same Same or Different? Local reactions to democracy promotion between take-over and appropriation“, in: International Studies Perspectives, 1-19), sowie zwei deutschsprachige Zeitschriftenartikel (Zimmermann, Lisbeth (2009): „Wann beginnt der (Demokratische) Frieden? Regimewechsel, Instabilitäten, Integration und deren Einfluss auf den Konflikt zwischen Ecuador und Peru“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 16(1), 39-73; Deitelhoff, Nicole/Zimmermann, Lisbeth (2013): „Aus dem Herzen der Finsternis: Kritisches Lesen und wirkliches Zuhören der konstruktivistischen Normenforschung. Eine Replik auf Stephan Engelkamp, Katharina Glaab und Judith Renner“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 20(1), 61-74). Die Promotion erfolgte 2012 mit Auszeichnung und ist erschienen als: Zimmermann, Lisbeth (2017): Global Norms with a Local Face. Rule-of-Law Promotion and Norm Translation (Reihe: Cambridge Studies in International Relations), Cambridge: Cambridge University Press.
Linda Wallbott beschäftigte sich im Rahmen ihres Projekts mit der Frage, wie Gerechtigkeitsansprüche in internationalen Verhandlungen konstruiert werden und welche Faktoren zu ihrer Wirkmächtigkeit beitragen. Unter diesem Aspekt betrachtete sie die Verhandlungsprozesse zahlreicher internationaler Regime, insbesondere des internationalen Klima- und Biodiversitätsregimes. Ihr Forschungsprojekt untersuchte dabei, inwieweit nicht bloß materielle Unterschiede nominell gleichgestellter Verhandlungspartner/innen Einfluss auf ihre normative Wirkmächtigkeit haben, sondern auch nicht-materielle und sozio-psychologische Faktoren eine Rolle spielen. Ergebnisse ihres Forschungsprojekts wurden veröffentlicht als: Deitelhoff, Nicole/Wallbott, Linda (2012): „Beyond soft balancing. Small states and coalition building in the ICC and Climate negotiations”. Cambridge Review of International Affairs 25(3), 345-366.; Wallbott, Linda, (2012) „Political in Nature: The Conflict-fuelling Character of International Climate Policies”, in: Jürgen Scheffran/Michael Brzoska/Hans Günter Brauch/Peter Michael Link/Janpeter Schilling (Hg.), Climate Change, Human Security and Violent Conflict. Challenges for Societal Stability, Hexagon Series on Human and Environmental Security and Peace, vol. 8, Berlin, Heidelberg, New York: Springer, 223-241.
Angela Marciniak widmete sich in ihrem Dissertationsprojekt der Problematik von Sicherheitskonzepten in der Geschichte des politischen Denkens. An ausgewählten Werken (Thomas Hobbes, Jeremy Bentham, Hans Joachim Morgenthau) rekonstruierte sie eine Ideengeschichte politischer Sicherheit und machte damit Sicherheit als politisches Konzept für die gegenwärtige normative politische Theorie nutz- und fruchtbar. Ziel dieser Analyse verschiedener Sicherheitskonzeptionen und -dimensionen war es dabei nicht nur zu einem tieferen Durchdringen des Konzeptes Sicherheit beizutragen, sondern aus der Kritik vorliegender Sicherheitskonzeptionen zudem eine dringende Öffnung von Diskursen zum Thema Sicherheit, eine Pluralisierung von Sicherheitsverständnissen sowie eine „Demokratisierung“ derselben abzuleiten. Die Dissertation ist erschienen als: Marciniak, Angela (2015) Politische Sicherheit: Zur Geschichte eines umstrittenen Konzepts, Frankfurt a.M./New York: Campus.
Friedrich Arndt untersuchte in seiner Promotionsarbeit das Verhältnis von Demokratie, demokratischer Praxis und Macht. Er analysierte verschiedene Traditionen des demokratischen Denkens aus einer macht- und sozialtheoretischen Perspektive und entwickelte auf diesen Einsichten aufbauend Elemente einer Sozialtheorie des „Demokratischen“. In diesem Kontext untersuchte er insbesondere die gesellschaftliche Konstruktion von Umwelt im Kontext internationaler Umweltpolitik (Arndt, Friedrich (2009): „The Politics of Socionatures. Images of Environmental Foreign Policy“, in: Paul G. Harris (Hg.): Environmental Change and Foreign Policy: Theory and Practice, London: Routledge, S. 74-89), sowie die Demokratisierung von Wissen in der globalen Klimapolitik (Arndt, Friedrich/Mayer, Maximilian (2012): „Demokratisierung von Wissen und transnationale Demokratie in der globalen Klimapolitik“, in: Melanie Morisse-Schilbach/Jost Halfmann (Hg.): Wissen, Wissenschaft und Global Commons. Baden-Baden: Nomos, 179-207). Zudem beschäftigte er sich mit poststrukturalistischen Ansätzen zur Steuerung durch diskursive Praktiken (Arndt, Friedrich/Richter, Anna (2009): „Weiche Steuerung durch diskursive Praktiken“, in: Gerhard Göhler/Ulrike Höppner/Sybille de la Rosa (Hg), Weiche Steuerung. Studien zur Steuerung durch diskursive Praktiken, Argumente und Symbole, Baden-Baden: Nomos, 27-73), sowie den Möglichkeiten eines zeitgemäßen Subjektverständnisses (Arndt, Friedrich (2009): „Wer hat Angst vorm anthropinon? Poststrukturalistisches Subjektverständnis nach Ernesto Laclau“, in: Dirk Jörke/Bernd Ladwig (Hg.), Politische Anthropologie. Geschichte – Gegenwart – Möglichkeiten, Baden-Baden: Nomos, 149-164). Die Dissertation ist erschienen als: Arndt, Friedrich (2013): Modi des Demokratischen. Zum Verhältnis von Macht und Demokratie, Nomos: Baden-Baden.
Ayelet Banai formulierte in ihren Arbeiten eine egalitäre Konzeption eines Rechts auf Selbstbestimmung. Ausgehend von diesem zentralen Anspruch demokratischen Denkens und Handelns entwickelte sie eine Konzeption internationaler Gerechtigkeit, die sich sowohl von staatszentrierten als auch von kosmopolitischen Konzeptionen abgrenzt. Die Ergebnisse dieser Arbeit stellen eine Anwendung dieser Konzeption auf verschiedene Aspekte gegenwärtiger Gerechtigkeitsdebatten dar, u.a. dargelegt in: Banai, Ayelet (2012): „Kosmopolitismus und das Problem politischer Zugehörigkeit“, in: Niesen, Peter (Hg.), Transnationale Gerechtigkeit und Demokratie (Normative Orders Bd. 6), Frankfurt a.M./New York: Campus, 77-102; Banai, Ayelet/Ronzoni, Miriam/Schemmel, Christian (2011): „Global Social Justice: The Possibility of Social Justice in a World of Overlapping Practices“, in: Banai, Ayelet/Ronzoni, Miriam/Schemmel, Christian (Hg.), Social Justice, Global Dynamics, London: Routledge, 46-60). Im Rahmen des Projekts war sie zudem an der Organisation und Durchführung zahlreicher Workshops beteiligt. Exemplarisch zu nennen ist hier „Global Justice, Politics, Morality“, TU Darmstadt 12.12.2008 mit Andrea Sangiovanni, zu dem sie zudem einen Kommentar verfasste („Coercion, Reciprocity and the Difference Principle“). Ayelet Banai wurde im Februar 2010 an der University of Oxford promoviert mit der Arbeit "Drawing Boundaries: Nations, States and Self-Determination".
Projektleitung: Prof. Dr. Rainer Forst
Das Forschungsprojekt "Menschenrechte, Gerechtigkeit und Toleranz" hat die Zielsetzung verfolgt, im doppelten Dialog mit der islamischen Tradition und der zeitgenössischen Menschenrechtsphilosophie eine eigenständige Konzeption der Menschenrechte zu erarbeiten. Leitend war dabei die Frage nach den Ressourcen für eine übergreifende Rechtfertigungsordnung, die Menschenrechte als fundamentale Normen der Gerechtigkeit enthält und sich nicht dem Schema einer Gegenüberstellung von "westlich" und "islamisch" fügt.
Hierzu wurde zunächst die innerislamische Menschenrechtsdiskussion analysiert und mit Menschenrechtsdiskursen verglichen, deren Geltung und Genese als "westlich" angesehen wird. In kontextueller Hinsicht ließ sich dabei feststellen, dass ein wesentliches Motiv der islamischen Diskussion darin besteht, zu beweisen, dass der Islam keine fremden moralischen „Belehrungen“ benötige, da dieser, je nach Auffassung, entweder selbst bereits moralisch vollkommen sei und somit keiner fremden menschenrechtlichen Ideen bedürfe oder alternativ gar selbst der ursprüngliche Erfinder der Menschenrechte sei. In systematischer Hinsicht wurde der Versuch unternommen, die Bandbreite des islamischen Menschenrechtsdiskurses zu erfassen und diesen nach einem Kriterium zu ordnen, das die inhaltlichen und methodischen Differenzen in der Beantwortung der Frage nach der Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten verständlich werden lässt. Vier muslimische Argumentationshaltungen wurden dabei von einander differenziert und auf ihre inhaltliche Argumentation hin analysiert.
Die Rekonstruktion der innerislamischen Menschenrechtsdiskussion hat ergeben, dass es unter Muslimen ein sehr breites Meinungsspektrum gibt, wenn es um die Frage der Vereinbarkeit von Islam und Menschenrechten geht. Von einer oft suggerierten einheitlichen islamischen Menschenrechtsposition kann keine Rede sein. Auffällig war im Hinblick auf den Diskurs jedoch die Tatsache, dass es ihm in erster Linie darum geht, das Stigma des menschenrechtlichen Problemkinds loszuwerden. Aufgrund dieser reaktiven Dynamik ist der Diskurs bisher nicht dazu in der Lage gewesen, einen eigenständigen Beitrag zur Förderung des allgemeinen Menschenrechtsverständnisses beizusteuern. Dies wurde vor allem dann deutlich, wenn es um die Frage der Begründung der Menschenrechte geht. Die zentrale und auch von anderen Religionen geteilte Annahme, dass Menschenrechte von Gott gegeben sind oder ein göttliches Fundament besitzen, führt zur problematischen Schlussfolgerung, dass es sich hier um Rechte handelt, die dem Menschen nicht als solchem zukommen, sondern lediglich deswegen, weil er ein Geschöpf Gottes ist. Die Achtung der Menschenrechte wird somit also primär zu einer rituellen Pflicht gegenüber Gott, während die moralische Pflicht gegenüber dem Menschen nur sekundär bleibt und sich quasi erst aus der religiösen Primärpflicht ergibt. Dies führt unweigerlich zu einem weiteren Problem. Wenn die Achtung der Menschenrechte nämlich allein deswegen erfolgen soll, weil der Glaube dies zur Pflicht macht, dann hätten jene Menschen, die einen anderen oder gar keinen Glauben haben überhaupt keinen verpflichtenden Grund, die Menschenrechte zu achten.
Auf begründungstheoretischer Ebene ergibt sich daher also die Notwendigkeit, Menschenrechte unabhängig vom islamischen Glauben zu begründen, um die universale Gültigkeit der Menschenrechte zu garantieren. Die Problematik, die sich aus dieser Forderung jedoch aus muslimischer Perspektive ergibt, ist die, dass die muslimische Akzeptanz der Menschenrechte unmittelbar damit zusammenhängt, einen islamischen Bezug zu ihnen herstellen zu können, d.h. Menschenrechte aus dem islamischen Rechts- und Gedankengebäude heraus zu legitimieren. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Menschenrechte normative Ansprüche darstellen, die dem Menschen einerseits einen bestimmten Handlungsraum gewähren, ihm andererseits aber auch ein bestimmtes Handeln vorschreiben und somit in ein moralisches Terrain eindringen, das gleichzeitig von der Religion beansprucht wird. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Idee der Menschenrechte Teil eines Identitätsdiskurses ist, in dem sie nicht selten als „abendländisch-christliche Werte“ portraitiert werden, an die sich andere Kulturen anzupassen haben. Um die Annahme der Menschenrechte also nicht als bloße Übernahme von vermeintlich „westlichen“ Ideen erscheinen zu lassen, müssen sich Menschenrechte demnach aus der islamischen Tradition ableiten und begründen lassen. Der Herausbildungsprozess des muslimischen Menschenrechtsverständnisses befindet sich zusammengefasst also in einem Spannungsfeld von zwei unterschiedlichen Normativitätsansprüchen: dem Anspruch der Universalität einerseits und dem der islamischen Legitimität andererseits. In dem Projekt wurden zwei Ansätze entwickelt, auf diese Problematik zu antworten.
Eine Möglichkeit, diese beiden Ansprüche gleichzeitig zu erfüllen, ergibt sich den Forschungsergebnissen zufolge, wenn man Menschenrechte, anlehnend an die Theorie der islamischen Rechtszwecke (maqāsid al‐šarīʿa), als Institutionen zum Schutze grundlegender menschlicher Bedürfnisse konzipiert. Islamisch legitimiert ist die Grundlage der menschlichen Bedürfnisse deswegen, weil ihr Schutz den Zweck des islamischen Rechts symbolisiert. Universal konsensfähig ist sie deswegen, weil menschliche Bedürfnisse einstellungsunabhängig existieren und somit ethisch neutral und intersubjektiv rechtfertigbar sind. Es handelt sich hier also um eine Grundlage der Rechtsfindung, die nicht wesensmäßig, jedoch auch religiös ist. Die Erarbeitung dieser Konzeption erfolgte zunächst ideengeschichtlich anhand einer Rekonstruktion der klassischen islamischen Theorie der Rechtszwecke. Anschließend wurde durch Rekurs auf die interdisziplinäre Bedürfnisforschung der Frage nachgegangen, was Bedürfnisse sind und welche Bedürfnisse der Mensch hat. Dies ist die Position, die Mahmoud Bassiouni in seiner 2014 bei Suhrkamp erschienenen Dissertation entwickelt.
Eine andere Möglichkeit, die interne (aus der Binnensicht einer Kultur bzw. Religion) und externe (universalistische) Legitimität einer Menschenrechtskonzeption zu begründen, liegt in einer reflexiven Wendung auf das grundlegende "Recht auf Rechtfertigung" von Personen, keinen normativen Ordnungen unterworfen zu werden, die ihnen gegenüber nicht als Freien und Gleichen gerechtfertigt werden kann. Dies ist ein ebenso interner wie externer Rechtfertigungsanspruch, also einer, der innerhalb normativer Ordnungen gelten muss, sofern sie ihren Mitgliedern gegenüber allgemeine Geltung beanspruchen, wie auch einer, der von außen an normative Ordnungen herangetragen werden kann, die den Anspruch auf Geltung erheben. Die Menschenrechte, die auf der Basis des Rechts auf Rechtfertigung gerechtfertigt werden können, und zwar durch die Betroffenen selbst als normativen Autoritäten, sind entsprechend immanent und kontextübergreifend begründbar, in unterschiedlichen Graden der Konkretion. Dies ist die These, die Rainer Forst in seinen Arbeiten zu Menschenrechten, Gerechtigkeit und Toleranz begründet.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde eine internationale Konferenz organisiert, mit dem Titel „Human Rights Today: Foundations and Politics“ (Frankfurt, 17.-18.6.2010). Vortragende waren unter anderem Abdullahi Ahmes An-Na’im, Susanne Baer, Étienne Balibar, Charles Beitz, Seyla Benhabib, Costas Douzinas, Jürgen Habermas, Hans Joas und John Tasioulas. Die Beiträge dieser Konferenz bildeten die Grundlage für einen Schwerpunkt „Human Rights“ in Constellations 20:1, 2013, der von Rainer Forst gemeinsam mit Christoph Menke und Stefan Gosepath herausgegeben wurde.
Zu den wichtigsten Publikationen des Foschungsprojekts zählen: Bassiouni, Mahmoud (2014): Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legititmität, Berlin: Suhrkamp; Forst, Rainer (2014) Justice, Democracy and the Right to Justification, London: Bloomsbury, 2014 (Band mit einem Aufsatz (Two Pictures of Justice), sechs kritischen Beiträgen von A. Sangiovanni, A. Allen, K. Olson, A. S. Laden, E. Erman, S. Caney und einer ausführlichen Replik (Justifying Justification: Reply to My Critics) und Forst, Rainer (2014) The Power of Tolerance, zusammen mit Wendy Brown, New York: Columbia University Press.
Projektleitung: Prof. Dr. Martin Seel
Zu den Grundannahmen des Exzellenzclusters gehört, dass ethisch und politisch wirksame Rechtfertigungsmuster immer bereits in historische und ästhetische Narrationen eingebettet sind und dass rechtfertigenden Gründen, die nicht in narrativer Form dargeboten werden, oft nur in dieser Umgebung ein starkes moralisches oder politisches Gewicht zukommen kann. Diese Verhältnisse untersuchte das Forschungsprojekt aus einem Blickwinkel, der den historischen, politologischen und philosophischen Forschungen des Clusters zusätzlich einen starken kulturwissenschaftlichen Akzent verlieh. Im Interesse der Klärung eines allgemeinen Begriffs der sei es stabilisierenden, sei es transformatorischen Kraft narrativer Rechtfertigungen wurde untersucht, welcher ästhetischen Strategien sich heute eine narrative Vergegenwärtigung und Transformation normativer Standards bedient – und welche besondere normative Qualität diesen Strategien zukommt.
Konkreter Untersuchungsgegenstand war dabei das gegenwärtige Kino. Wir untersuchten, wie in fiktionalen und dokumentarischen Filmen Vorstellungen von Recht und Unrecht tradiert, etabliert und erschüttert werden, und dies gerade aus Anlässen und an Schauplätzen, die zu Wahrzeichen des Prozesses der ökonomischen und politischen Globalisierung geworden sind, denen also emblematischer oder symbolischer Charakter zukommt. Das Projekt verknüpfte daher die theoretische Frage nach der legitimatorischen und/oder delegitimatorischen Kraft von Rechtfertigungserzählungen eng mit exemplarischen Analysen von Filmen, die in ihrer audiovisuellen Gestaltung auf unterschiedliche Weise eine normative Haltung zu zentralen politischen Konflikten der Gegenwart formulieren.
Das Projekt konzentrierte sich dabei auf zwei Gruppen von Filmen, in denen auf unterschiedliche Weise die Erschütterung der politischen Weltordnung in Folge der Anschläge am 11.9.2001 thematisch wird. Die erste Gruppe bildeten – formal und ideologisch heterogene – Filme, die in mehr oder weniger direkter Reaktion auf die Anschläge und die Kontroversen um ihre Deutung entstanden sind. Die zweite Gruppe bildeten – wiederum: formal und ideologisch heterogene – Filme, die seit 2003 die Folgen der alliierten Invasion in den Irak behandeln.
In einem ersten Schritt ging es uns um eine Klärung des Begriffs der Narration ganz allgemein. In einem gemeinsam mit Stefan Deines angebotenen Hauptseminar zur Philosophie der Narration haben wir eine Durchsicht durch philosophische Theorien des Erzählens verschiedenster Ausrichtung erarbeitet. Anspruchsvolle philosophische Theorien des Erzählens weisen auf dessen grundsätzliche Bedeutung für die menschliche Praxis hin. So sieht etwa Arthur Danto die Fähigkeit des Erzählens als notwendig für ein geschichtliches Selbstverhältnis des Menschen an. Peter Goldie betont die Rolle des Erzählens für Erinnerungen an Handlungen und insbesondere für in die Zukunft gerichtete Handlungsplanung und -antizipation. Erzählungen bringen einzelne Ereignisse in eine Ordnung, ohne die Entwicklungen und Ziele gar nicht verständlich wären. Gerade in künstlerischen Erzählungen, so der Befund, kommt die Spannung zwischen den erzählten Ereignissen und deren formaler Anordnung besonders in den Blick, die jeder Erzählung inhärent ist. Für den Film, der seine Erzählungen in die Form einer audiovisuellen Präsentation bringt, ergibt sich hier ein spezifischer Modus der Präsentation, in dem eine story durch die Art und Weise, wie sie nicht nur erzählt, sondern erzählend gezeigt wird, vielfältig verstärkt oder gebrochen werden kann. Prominente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche haben dieses Verhältnis in der Ringvorlesung zum Thema „Narration und Rechtfertigung im Kino“, die wir im Wintersemester 2011/12 organisiert haben, im Detail ausgelotet. Im Fokus standen dort die spezifisch filmischen Verfahren des Erzählens und ihr Verhältnis zu rechtfertigenden Gründen. Die internationalen Vortragsgäste arbeiteten das jeweils an einem konkreten Filmbeispiel aus; zu diesen zählten unter anderem Robert Pippin, George Wilson, Gertrud Koch, Josef Früchtl oder Juliane Rebentisch. Dabei wurde vor allem deutlich, dass im Bereich des Films Verfremdungseffekte zum Tragen kommen, die ganz eigene, affektiv geladene oder neutralisierte Haltungen zu den erzählten Ereignissen, und den Personen, die an ihnen teilnehmen, konstituieren.
Im Anschluss an diese ausführlichen Bestimmungen der Grundbegriffe des Projekts haben wir in einer Reihe von Publikationen und Präsentationen im Kontext des Projekts demonstriert, dass die spezifisch filmische Gestaltung und die mit ihr verbundenen Formen der narrativen Stellungnahme insbesondere hinsichtlich der Aufarbeitung von Terror und Krieg im gegenwärtigen Kino einen Unterschied machen.
Zu den wichtigsten Publikationen zählen:
Martin Seel: „Narration und (De-)Legitimation: Der zweite Irak-Krieg im Kino“. In: E. Rudolph, T. Steinfeld (Hg.): Machtwechsel der Bilder. Zürich 2012, 213-227 und Martin Seel: „Kino-Demonstrationen“. In: Frankfurter Kunstverein und Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ (Hg.): Demonstrationen. Vom Werden normativer Ordnungen, Frankfurt a.M. 2012, 187-208. Im Rahmen des Projekts wurde die bereits erwähnte Vorlesungsreihe im WS 2011/2012 „Narration und Rechtfertigung im Kino“ durchgeführt.
Die einschlägigen Filme (und Fernsehserien), mit denen wir uns in diesem Zusammenhang intensiv auseinandergesetzt haben, sind: Southland Tales, United 93, Generation Kill, Home of the Brave, In the Valley of Elah, The Hurt Locker, Zero Dark Thirty. Sie sind Beispiele für eine Reihe von ungefähr 100 Spiel- und Dokumentarfilmen sowie Fernsehserien, die wir im Rahmen des Forschungsprojekts gesichtet haben. In den meisten Fällen brechen die Filme über die Anschläge vom 11. September 2001 und den darauf folgenden Krieg im Irak die Ereignisse auf die Erlebens- und Handlungskontexte einzelner Figuren oder einer Gruppe von realen, fiktionalen oder fiktionalisierten Personen herunter, die dann die historischen Situationen in ihrer eigenen Involviertheit spiegeln. Im Blick auf diese Ausschnitte aber konstruieren wiederum die meisten Filme eine Haltung, die die präsentierten Ereignisse und ihre Rechtfertigungen durchaus problematisieren – gerade indem sie die medial geläufigen Bilder dieser Ereignisse mit alternativen Bildern konfrontieren und so alternative Erinnerungen generieren.
Auf der einen Seite setzt gerade das gegenwärtige Kriegskino häufig eine explizite Thematisierung oder gar Kritik am Wahrheitsanspruch der Bilder vom Krieg ein, indem es ihre mediale Bedingtheit ausstellt. Hier werden beispielsweise Bilder von Handy- oder privaten Videokameras in den Film einmontiert und damit Authentizitätseffekte konstruiert und gleichzeitig in Frage gestellt (wie etwa in In the Valley of Elah, Redacted oder Generation Kill). Oder es werden Aufnahmen von Überwachungskameras oder Youtube-Clips eingespielt, die wiederum auf die Ubiquität zirkulierender Bilder von Krieg oder Terror verweisen (etwa in Southland Tales oder wiederum Redacted). Gerade die Anschläge auf das New Yorker World Trade Center sind in massenhafter Form mit privaten Aufnahmegeräten dokumentiert und so in die Erinnerung eingegangen. Diese Erinnerung nehmen Filme auf und variieren sie: in Alejandro Gonzáles Iñárritus Kurzfilm Mexiko etwa oder in Zero Dark Thirty wird der Zuschauer mit diesen Bildern in seiner Erinnerung konfrontiert, indem sie im Film gerade nicht erscheinen, sondern ausgeblendet oder geschwärzt sind.
Strategien dieser Art lassen sich mit einem in den Kulturwissenschaften einschlägigen Begriff beschreiben: filmische Narrative dienen als Remediation kollektiver Traumata und Krisen, dergestalt dass sich die Umbrüche in den normativen Ordnungen mit ihrer Hilfe immer wieder aufs Neue betrachten und bewerten lassen. Damit greifen sie in den öffentlichen Austausch von Gründen und Gegengründen ein, die wiederum in expliziten moralischen oder politischen Debatten eine Rolle spielen. Gegenläufig reflektieren sie die zugrundeliegenden Haltungen, auf deren Grundlage Entscheidungen getroffen werden.
Zum Abschluss des Projekts wurden die Ergebnisse in Form einer konkreten Auseinandersetzung mit dem Material festgeschrieben. Zu diesem Zweck war eine interdisziplinäre Gruppe von 14 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eingeladen – unter ihnen Thomas Elsaesser, Elisabeth Bronfen, Hans Jürgen Wulff und eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus Frankfurt –, mit der in einem Workshop im März 2014 zum Projektthema eine Auswahl der einschlägigen Filme extensiv diskutiert wurde. Die erarbeiteten Ergebnisse wurden zusammen mit einer systematischen Darstellung des Zusammenhangs von Narration und Rechtfertigung im Film in einem Sammelband „Erzählungen und Gegenerzählungen. Terror und Krieg im Kino des 21. Jahrhunderts“ (Band 16 der Reihe des Exzellenzcluster , Frankfurt/New York, Campus, 2016) publiziert und bilden damit zugleich die öffentliche Dokumentation der Arbeit im Forschungsprojekt.
Weitere Beiträge...
- Religiöse Ideen und soziales Handeln: Christliche Rechtfertigungsnarrative zwischen Gesellschaftskritik und Legitimitätsglauben
- Normativität und Freiheit
- Geltungsbedingungen partikular produzierter Normen mit universalistischem Anspruch unter den Bedingungen kultureller Heterogenität
- Die Diktatur der Gerechtigkeit