Begriffe als Mini-Institutionen, die für beides bürgen – für Stabilität und Revolution: In seiner Frankfurter Abschiedsvorlesung gibt der Philosoph Christoph Menke eine Kostprobe der Kunst, Begriffe gegen sich selbst zu kehren.
Von Christian Geyer
In einer Fernsehsendung des Westdeutschen Rundfunks von 1967 führten Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen einen als „soziologisches Streitgespräch“ ausgewiesenen Disput zum Thema „Freiheit und Institution“. Der Frankfurter Philosoph und Direktor des Instituts für Sozialforschung war in diesem Sendeformat schon verschiedentlich mit dem an der TH Aachen lehrenden Ordinarius für Philosophie zusammengetroffen. Der Institutionen-Disput war nicht nur hochpolitisch wegen der grundstürzenden Zeitumstände, sondern er ist, durchweg abstrakt gehalten, auch ein Beispiel für Dialektik, Komplexität und Hintergründigkeit, drei Modi des Nichtlinearen, auf die sich Adorno und Gehlen in ihrem Gespräch des Öfteren explizit beziehen.
Auch wenn jeder der beiden Diskutanten naturgemäß seine eigenen Akzente setzte, ist dabei nicht Dissens, sondern Konsens stilbildend. Verschiedentlich fällt von beiden Seiten die Wendung „Ich gebe Ihnen das zu“, und ein Gegeneinander erlaubt man sich nur in sprachlichen Subtilitätsgraden, denen alles Schroffe abgeht. Härten bleiben aus. So etwa, wenn es um die Frage geht, ob institutionelle Vorgaben dem menschlichen Bewusstsein als etwas Fremdes, im Grunde nicht Gemäßes vorkommen. Das sollte man nicht „ohne Weiteres“ unterstellen, wandte Gehlen ein. Blitzschnell gab Adorno zurück: „Nicht ohne Weiteres, aber mit Weiterem schon“. Ungerührte Distinguiertheit beherrscht die Ausdrucksweisen beider, Adorno formvollendet bis zur Manieriertheit, Gehlen mit gebremster Impulsivität gelegentlich etwas derangiert wirkend.
Lust an subjektiven Setzungen
Von beiden wird, je anders gewichtet, das Institutionelle grundsätzlich als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit gesehen. Mündigkeit erscheint hier weder bei Gehlen noch bei Adorno von vornherein als Gegenbegriff zur Institution, vielmehr wird ein Spannungsfeld zwischen „Entlastung“ und „Bedrückung“ skizziert, in welchem der einzelne Mensch sich mit der Institution vermittelt, wie verschieden das je nach Menschentyp und Institution im Ergebnis dann auch gelingen mag.
Als der Philosoph Christoph Menke, ein Vordenker in dritter Generation der Frankfurter Schule, vergangene Woche seine Abschiedsvorlesung unter der Überschrift „Apologie der Institution“ hielt, nahm er auf das frühe Fernsehgespräch zwischen Adorno und Gehlen Bezug. Vorweggeschickt: Menke wäre in dem Disput von 1967 der ideale dritte Mann gewesen, gäbe es eine Zeitmaschine, die dies auch praktisch ermöglichen würde. Für ihn ist Hintergründigkeit ein Synonym fürs Denken überhaupt, wie zuletzt wieder seiner „Theorie der Befreiung“ (2022) zu entnehmen war, einem Buch, das sich nicht gestattet, einen Gedanken darzustellen, solange er nicht in allen einschlägigen Verästelungen durchdacht worden ist und dergestalt dann auch seinen schriftlichen Niederschlag findet.
Bin ich im falschen Film?
Auch die Lust an subjektiven, nicht linear hergeleiteten Setzungen, gepaart mit einem ironischen Gegenbürsten, Unterlaufen von eingespielten, womöglich überakademisierten Begriffen, steht für Menkes Denkungs- und Schreibart, für sein sprachliches Formbewusstsein, das Begriffe wie Mini-Institutionen auffasst, die verteidigt gehören „nicht im Namen der Stabilität, sondern im Namen der Geschichte, der Politik, der Veränderung, der Revolution“, um eine auf Institutionen im Allgemeinen gemünzte Wendung Menkes aus seiner Abschiedsvorlesung aufzugreifen. Hier gilt also im doppelten Sinne, was Menke gegen populistische Übergriffe festhielt: Institutionen sind mehr als Hüllen.
Wie kommt ein Hintergründiger (Menke) dann aber dazu, zwei anderen Hintergründigen (Adorno und Gehlen) ein einfaches Gegeneinander zu unterstellen, und sei es auch nur vorderhand? Menke entnimmt der bei Youtube abrufbaren Sendung „Adornos schroffe Zurückweisung von Gehlens Feier der Unterordnung und Einordnung“; nach Gehlen werde Freiheit in Institutionen „begrenzend ermöglicht“, nach Adorno „unterdrückend zerstört“. Aber das stimmt so doch gar nicht, möchte man rufen. Das ist bei den beiden doch alles viel hintergründiger, komplexer, dialektischer angelegt! Bin ich im falschen Film? Gemach, gemach, man lese weiter: Menke selbst formuliert, worin Adorno und Gehlen ausweislich ihres Gesprächs übereinstimmen, aber er formuliert es gegen sie, von der verkehrten Prämisse ihres einfachen Gegeneinander ausgehend – als müssten sie über ihren Konsens erst belehrt werden, in einer imaginären Zeitmaschine.
Freiheit und Institution, so Menke, stünden „in einem komplexeren Verhältnis als entweder autoritärer Entlastung oder Unterdrückung der Freiheit“. Ja, eben! War dies nicht genau die Feststellung, auf die Adorno und Gehlen in ihrer Sendung Wert legten, nicht ohne Weiteres, aber mit Weiterem schon? Was ist dem umsichtigen Menke da in welchem seiner Hintergründe entglitten? Ja, die Bildqualität der Sendung war schlecht, aber der Ton doch einwandfrei. Eine hyperdialektische Begriffsrevolution am Ende, deren Hintergrund sich nicht aufhellen lässt? Sollte hier eine Kostprobe der Kunst gegeben werden, Begriffe gegen sich selbst zu kehren? Ach, vielleicht ist weniger Hintergründigkeit manchmal einfach mehr.
Von Christian Geyer aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18.2.2025. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv