Die Polizei zählt mehr Gewalttaten und mehr ausländische Verdächtige. Der Kriminologe Tobias Singelnstein warnt: Die Statistik sage wenig über die echte Kriminalität.

Interview: Lenz Jacobsen

Am Dienstag wird die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für 2023 vorgestellt, erste Zahlen sind schon bekannt. Demnach ist die Zahl der von der Polizei registrierten möglichen Straftaten um 5,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Tobias Singelnstein ist Professor für Strafrecht und Kriminologie und ordnet die Zahlen im Interview ein.

ZEIT ONLINE: Herr Singelnstein, die PKS misst in mehreren Bereichen deutliche Anstiege. Ist Deutschland unsicherer und krimineller geworden?

Tobias Singelnstein: Das wissen wir nicht. Denn die Zahlen der PKS sagen kaum etwas über die tatsächliche Kriminalitätsentwicklung in Deutschland aus. Es ist bizarr, wie sie Jahr für Jahr in der öffentlichen Debatte überinterpretiert wird.

ZEIT ONLINE: Was misst die PKS denn, und warum ist das so wenig aussagekräftig?

Singelnstein: Die PKS ist ein Tätigkeitsbericht der Polizei, mehr nicht. Darin werden einfach alle Verdachtssituationen erfasst, die der Polizei bekannt werden – in der Regel durch private Anzeigeerstattung. Die Statistik spiegelt nur das wider, was die Polizei sehen kann und erfassen will. Die PKS wird behandelt wie der Goldstandard der Kriminalitätsmessung. Sie ist aber nur der Blechstandard.

ZEIT ONLINE: Unter anderem vermeldet die PKS deutlich mehr Gewalttaten, 8,6 Prozent mehr als im Vorjahr. Das stimmt also nicht?

Singelnstein: Das bedeutet erst mal nur, dass die Polizei entsprechend mehr Fälle bearbeitet hat. Das kann auch daran liegen, dass mehr angezeigt wird. Wenn wir die Statistik interpretieren, müssen wir fragen, welche Taten bei der Polizei landen und welche nicht. Aus der Forschung ist zum Beispiel bekannt, dass man eher Menschen anzeigt, die man als nicht zur eigenen Gruppe gehörend wahrnimmt.

ZEIT ONLINE: Aber das hieße das doch, dass Ausländer eher nicht zur Polizei gehen, wenn sie Gewalt durch andere Ausländer erleben. Laut Polizei machen genau solche Taten aber einen sehr großen Anteil aus.

Singelnstein: Auch diese Zahlen müssen eingeordnet werden. Ein Teil der Fälle wurde zum Beispiel in Sammelunterkünften erfasst, da ist die soziale und behördliche Kontrolle deutlich intensiver. Da rufen meist nicht die Bewohner, sondern Betreuer und Leiter der Unterkunft die Polizei. Das ist eine ganz andere Kontrollintensität als in einem Mietshaus, wo viele Konflikte informell geregelt werden. So etwas wird in der Statistik aber nicht berücksichtigt. Das sind Verzerrungen, die man eigentlich herausrechnen müsste, wenn man etwas über die tatsächliche Kriminalitätslage erfahren will. Mich stört generell schon diese Einteilung in deutsche und nicht deutsche Tatverdächtige.

ZEIT ONLINE: Warum?

Singelnstein: Weil es im Kontext Kriminalität praktisch nichts aussagt, aber rassistische Diskurse bedient. Selbst wenn es zum Beispiel in Sammelunterkünften zu besonders viel Gewalt kommt, dann liegt das an den Lebensbedingungen dort und an der sozialen Lage der Bewohner, ihrer Altersstruktur und anderem. Und nicht daran, welchen Pass die in der Tasche haben.

ZEIT ONLINE: Aber die Statistik sagt ja erst einmal nichts über Gründe, sondern nur, dass es besonders viele Tatverdächtige ohne deutschen Pass gibt und dass viele Taten in Sammelunterkünften passieren. Das ist doch eine legitime Feststellung und ein Problem, um dass sich die Politik kümmern müsste.

ZEIT ONLINE: Wie meinen Sie das?

Singelnstein: Den größten Anteil daran machen die gefährlichen Körperverletzungen aus. Das klingt erst mal übel. Aber in diese Kategorie fallen schon alle Situationen, bei denen zwei Personen zusammenwirken, egal wie brutal oder harmlos es ist. Wenn also zwei Personen in einen Konflikt mit einem Dritten geraten und diesem eine Ohrfeige geben, dann zählt das schon als gefährliche Körperverletzung. Die öffentliche Wahrnehmung wird hingegen bestimmt von spektakulären Einzelfällen, Messerangriffen und schweren Verletzungen, die aber nur einen kleinen Teil der statistisch erfassten Fälle ausmachen.

ZEIT ONLINE: Was würde helfen, um zu einem besseren Bild der tatsächlichen Kriminalität zu kommen?

Singelnstein: Letztlich sind die meisten Deutungen der veränderten Zahlen nicht mehr als Vermutungen. Wir wissen einfach nicht genau, ob es in bestimmten Bereichen nur deshalb statistisch mehr Fälle gibt, weil die Polizei beispielsweise anders vorgeht oder Betroffene eher anzeigen als früher. Um das herauszufinden, bräuchte es mehr detaillierte wissenschaftliche Untersuchungen. Das Bundeskriminalamt hat vor einiger Zeit mit regelmäßigen Befragungsstudien angefangen. Dabei werden die Befragten nach ihren Erfahrungen mit Kriminalität befragt, um sich nicht nur auf das zu verlassen, was bei der Polizei ankommt und erfasst wird. Aber es wird noch etwas dauern, bis man aus diesen Untersuchungen längerfristige Trends ablesen kann.

Interview von Lenz Jacobsen vom 7. April 2024 aus ZEIT ONLINE. © Alle Rechte vorbehalten. Zur Verfügung gestellt durch die ZEIT ONLINE GmbH.