FRANKFURT Der Politologe Thomas Biebricher erforscht konservative Parteien. Von der CDU wünscht er sich mehr Profil, aber auch klare Abgrenzung von der AfD. Nach den Landtagswahlen in Ostdeutschland erwartet er „unorthodoxe Regierungsbildungen“.

Von Sascha Zoske

Unwahrscheinlich, dass Hubert Aiwanger jemals auf einer Anti-AfD-Kundgebung das Wort ergreift. Der stellvertretende bayerische Ministerpräsident hat schon kundgetan, dass diese „Demos gegen rechts“ oft „von Linksextremisten unterwandert“ seien. Der Freie-Wähler-Chef, dem regelmäßig Rechtspopulismus vorgeworfen wird, wäre als Redner auf solchen Demonstrationen auch nicht sehr glaubwürdig, meint Thomas Biebricher. Er hat erkennbare Zweifel daran, dass Aiwanger noch in jener politischen Sphäre zu verorten ist, die der Frankfurter Politologe die rechte Mitte nennt.
Biebricher ist seit 2022 Heisenberg-Professor für politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität. Er befasst sich unter anderem mit dem Konservatismus; 2023 hat er ein Buch dazu veröffentlicht. Ob die Proteste gegen die AfD dieser schaden oder ihr noch mehr Anhänger zutreiben, sei schwer zu sagen, meint der 1974 geborene Forscher. Trotzdem hält er die Versammlungen für ein „wichtiges Zeichen“, mit dem die demokratischen Kräfte ihren Zusammenhalt zeigen könnten.
Ausdrücklich willkommen sind ihm auf solchen Veranstaltungen auch CDU-Politiker. Von den Versuchen mancher linker Organisatoren, Konservative auszuschließen, hält er überhaupt nichts. Biebricher gibt zu, dass das Motto, man protestiere „gegen rechts“, pauschalisierend sei. Es eigne sich aber gut zur Mobilisierung. Die Gefahr, dadurch Menschen auszugrenzen, die sich der rechten Mitte zurechnen, erscheint ihm kalkulierbar. Rechte wie linke Demokraten sollten seiner Meinung nach „über den eigenen Schatten springen“, wenn es gelte, gegen Extremisten zusammenzustehen.
Wie aber definiert Biebricher den Begriff „rechte Mitte“? Nicht über Positionen zu bestimmten Fragen, sondern als einen „Ort, an dem gemäßigter Konservatismus zu Hause ist“. Veränderungen würden dort – anders als im rechten Autoritarismus – nicht kategorisch abgelehnt. Mitte-rechts-Politiker seien bisweilen sogar bereit, den Wandel voranzutreiben, um harte Brüche zu vermeiden. Dadurch nähmen sie in der Gesellschaft eine wichtige Rolle ein: Sie könnten Verständnis für nötige Reformen auch in Gesellschaftsschichten wecken, die für linke Politiker nicht erreichbar seien.
Der kürzlich verstorbene Wolfgang Schäuble war für Biebricher ein klassischer Repräsentant der rechten Mitte. Aber auch die meisten derzeitigen Amts- und Mandatsträger von CDU und CSU rechnet er dazu, inklusive deren Vorsitzende. Wenngleich der Professor manche Äußerung von Friedrich Merz kritikwürdig findet, nehme er ihm „schon ab, dass er keine Sympathien für die AfD hat“. Merz und die anderen Unionspolitiker befänden sich in einem „strategischen Dilemma“: Einerseits müssten sie zwecks Wählergewinnung die Themen bearbeiten, mit denen die Rechtsautoritären punkteten, anderseits müssten sie darauf bedacht sein, sich von diesen abzugrenzen. Für eine stabile Brandmauer zur AfD sprechen laut Biebricher „robuste empirische Belege“: Der Blick etwa nach Österreich und Schweden zeige, dass Kooperationen mit Rechtsaußenparteien fast immer zulasten der traditionellen Konservativen gingen. Allerdings mache eine strikte Abgrenzung es auch unmöglich, gemäßigtere AfD- Vertreter durch Kooperationen ins eigene Lager zu ziehen.
Für die anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland bedeutet das aus Biebrichers Sicht: „Es gibt nur schlechte Optionen.“ Allparteienregierungen zur Verhinderung einer AfD-Herrschaft wären für ihn ein „demokratietheoretischer Offenbarungseid“: Damit würde nur die Behauptung der Rechtsautoritären bestätigt, die „Systemparteien“ hätten sich gegen sie verschworen. Eine etwaige Tolerierung von CDU-Minderheitsregierungen durch die AfD wiederum würde CDU-Chef Merz in eine äußerst schwierige Lage bringen; sowohl für die AfD wie auch für die Linke gelten Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Bliebe noch die Möglichkeit, Bündnisse mit den neuen Parteien von Sahra Wagenknecht und Hans-Georg Maaßen einzugehen, sofern sie antreten und es in die Landtage schaffen. Biebricher hält etwa eine Koalition zwischen Wagenknechts BSW und der CDU in Sachsen nicht für ausgeschlossen, auch wenn das für beide Parteien ein „sehr schwieriger Schritt“ wäre. So oder so ist sich der Politikwissenschaftler sicher: „Wir werden unorthodoxe Regierungsbildungen sehen.“
Immerhin ist die CDU überhaupt noch in der Lage, als stärkste Kraft Kanzler und Ministerpräsidenten zu stellen. In anderen Ländern wie Frankreich und Italien sind klassische konservative Parteien nach Biebrichers Worten längst von Rechtspopulisten beiseitegedrängt worden, oder sie hätten sich wie die Republikaner in den USA „kaputtradikalisiert“. Dass Parteien wie der Rassemblement National oder die Fratelli d’Italia sich deradikalisieren und in der Parteienlandschaft die rechte Mitte besiedeln, hält er für nicht sehr wahrscheinlich: Ihre Anhängerschaft könnte das als Anpassung an das „System“ werten und sich abwenden.
Umso größer ist für Biebricher die Verantwortung der CDU, die mit ihrer relativen Stärke ein Vorbild in Europa sein könne. Dieser Rolle wird die Partei nach Ansicht des Forschers derzeit jedoch nicht ausreichend gerecht. Unter Angela Merkel habe die Union konservative Positionen geräumt, „aber es ist nichts nachgewachsen an Ideen“. Welche sollten das sein? „Das muss die CDU beantworten“, findet Biebricher. Zwei Vorschläge hat er aber dann doch. Die „Konzentration in bestimmten Industrien“, etwa beim Big-Data-Geschäft, könnten Konservative kritisieren. Und als christliche Partei könne man den „Erhalt der Schöpfung“ hervorheben. „Das hat die CDU viel zu lange den Grünen überlassen.“
Einer, der sich auch viele Gedanken über die Zukunft der Konservativen macht, ist Andreas Rödder. Der Mainzer Historiker hat im vergangenen September den Vorsitz der CDU-Grundwertekommission niedergelegt, nachdem eine seiner Thesen zum Umgang mit der AfD scharfe Kritik hervorgerufen hatte: Rödder hält es für vertretbar, wenn CDU-Minderheitsregierungen in Ostdeutschland gelegentlich von der AfD unterstützt werden.
Biebricher sagt über Rödder, er „respektiere und schätze“ ihn. In der Debatte darüber, wie Konservatismus aussehen solle, gehöre der Mainzer Kollege zu den „einflussreichsten Stimmen“. Mit seinen Überlegungen zur AfD habe er sich jedoch „vergaloppiert“. Biebricher teilt auch nicht Rödders Meinung, die CDU solle sich auf den „Kulturkampf“ mit Linken und Grünen einlassen. Wenn die Union beispielsweise mit scharfen Worten gegen Gendersprache agitiere, laufe sie Gefahr, sich von den Rechtspopulisten nicht mehr zu unterscheiden. Anträge hierzu könne man auch so formulieren, „dass die AfD nicht mitstimmt“.
Ebenfalls auf Biebrichers Widerspruch trifft eine kühne These, die Rödder vor einiger Zeit zum Entsetzen mancher Konservativer formuliert hat: Die Union solle darüber nachdenken, das „C“ im Parteinamen zu streichen, denn in einer zunehmend entchristlichen Gesellschaft könne es eine Barriere für Nichtchristen sein und „Exklusivität signalisieren, wo die Union eigentlich auf Integration“ ziele.
Biebricher, der nach eigenen Worten öfter in CDU-Kreisen unterwegs ist, glaubt nicht an eine solche Revolution. Das „C“ setze schließlich Standards. Und es braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, welche Zerreißprobe ein solcher Schritt für die Partei bedeuten würde. Biebricher hat das gespürt, als er einmal zusammen mit Rödder auf einem Diskussionspodium saß. „Als es um das ,C‘ ging, stieg im Publikum sofort die Atemfrequenz.“

Von Sascha Zoske. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 30.01.2024, Hochschule und Forschung (Rhein-Main-Zeitung), Seite 6. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv