Die Frankfurter Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff beschäftigt sich mit den großen Kriegen. Das verschafft ihr derzeit viel öffentliche Aufmerksamkeit. Vor allem aber sucht sie nach Wegen, wie wieder Vertrauen zu schaffen ist.

Sascha Zoske

„Das macht mich wahnsinnig“, ruft Nicole Deitelhoff und lacht. Sie lacht überhaupt viel, manchmal wie ein Schulbub, der gerade seinem Klassenkameraden einen Streich gespielt hat und sich nun diebisch darüber freut. Deitelhoff lacht auch dann, wenn das, worüber sie spricht, gar nicht zum Lachen ist. Nicht aus Zynismus, sondern weil sie – meistens jedenfalls – ein ziemlich fröhlicher und optimistischer Mensch ist, allem Irrsinn zum Trotz, mit den sie sich als Konfliktforscherin befassen muss. Etwa mit dem Ukrainekrieg. Was sie in diesem Zusammenhang „wahnsinnig“ macht, sind die Ansichten mancher sogenannter Pazifisten. Dazu später mehr.

Ukraine, Gaza, die großen Kriege also, sie sind gewissermaßen Deitelhoffs Kerngeschäft als Direktorin des Frankfurt Peace Research Institute, wie sich die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung mittlerweile nennt. Doch das Wirkungsfeld der 49 Jahre alten Politologin reicht inzwischen weit darüber hinaus.

Kaum ein Wissenschaftler war in den vergangenen Monaten medial so präsent wie sie. Deitelhoff hat die Veranstalter der Kasseler Kunstschau Documenta nach dem Skandal um judenfeindliche Klischees beraten und deutlich gemacht, dass es kein „gewisses Maß an Antisemitismus“ gebe, das in Ausstellungen mit Teilnehmern aus dem globalen Süden akzeptabel sei. Sie hat eine Konzeptstudie für das Demokratiezentrum an der Frankfurter Paulskirche vorgelegt. Sie hat sich auf einer Podiumsdiskussion zum Klimaschutzurteil des Bundesverfassungsgerichts geäußert und in einem Vortrag zum Reformationsfest einen kritischen Blick auf die evangelische Friedensethik geworfen. Wer eine Stellungnahme wollte zu irgendeinem gesellschaftlichen oder politischen Streitfall, der kam schnell in die Versuchung, sich an Deitelhoff zu wenden.

„Wir verlieren Leute, die früher noch gewinnbar waren“

„Es ist zu viel“, findet die Begehrte inzwischen. Zumindest Anfragen für Fernsehauftritte hat sie nach eigenem Bekunden in den vergangenen Monaten „kategorisch abgelehnt“. Nicht nur wegen Arbeitsüberlastung, auch weil sie sich mit der Dramaturgie von Talkshows schwertue. Oft sei der Ablauf „gescripted“; statt eine offene Diskussion zu führen, gehe es darum, eine bestimmte Agenda abzuarbeiten. Einmal habe sie an einer Sendung teilgenommen, in der angeblich über politische Kultur gesprochen werden sollte. „Stattdessen habe ich neben Wahlgewinnern und -verlierern gesessen.“ Als Wissenschaftlerin wolle sie aber nicht die Tagespolitik kommentieren, sondern stattdessen „Trends und Muster darstellen“.

Was zu der Frage führt, welche Muster sie in den aktuellen Konflikten erkennt. Manche selbst ernannte Trendforscher kommen zu dem Schluss, dass auch die deutsche Gesellschaft inzwischen gespalten sei. Deitelhoff bestreitet das. „Im Grunde ist die Gesellschaft einiger mit sich selbst, als man annehmen könnte.“ Der Großteil der Bürger stehe politisch in der Mitte. „Die Ränder werden nicht unbedingt breiter, aber sie verhärten sich. Die Positionen werden radikaler. Wir verlieren Leute, die früher noch gewinnbar waren.“ Beängstigend findet es die Forscherin, „dass die Menschen das Krisenvertrauen verloren haben, das Vertrauen in demokratische Institutionen, in die Mitmenschen, in die Zukunft“. Umfragen zeigten, dass weniger als 20 Prozent glaubten, ihnen werde es künftig besser gehen als jetzt.

Die Folgen lassen sich an Wahlabenden besichtigen. Deitelhoff teilt die Einschätzung, dass nur ungefähr zehn Prozent der AfD-Wähler ein rechtsradikales Weltbild haben. Die übrigen stimmten aus Protest, vor allem aber aus Angst für die Partei. Beunruhigend sei dies gleichwohl. „Das führt zu Veränderungen, die sich nicht so leicht zurückdrängen lassen.“ Die Politologin redet keiner Zusammenarbeit mit der AfD das Wort, aber sie mag auch den Begriff der „Brandmauer“ nicht. „Wenn die AfD Wahlen gewinnt, kann man sie nicht ins Abseits stellen und so tun, als gäbe es sie nicht. Das erhöht nur die Frustration der Wähler.“ Man müsse die Partei inhaltlich stellen, etwa indem man sich mit ihren Ideen zur Begrenzung von Migration auseinandersetze.

Warnung vor zu viel Gemütlichkeit

Das ist kein neuer Gedanke, aber für manchen Linken schon Zumutung genug. Man dürfe Rechtsextreme nicht „hoffähig“ machen, indem man zu sehr auf ihre Themen eingehe, heißt es oft. Am Ende wählten die Menschen dann doch das „Original“. Doch Deitelhoff hält es für legitim, Vorschläge zu machen, wie sich Zuwanderung steuern lasse. Wer für die Begrenzung von Migration eintrete, sei deswegen noch kein Rechtsradikaler. „Die Frage ist: Was für Migration wünsche ich mir?“, sagt Deitelhoff und gibt für sich die Antwort: „Wir brauchen viele junge Menschen mit guter Ausbildung, die schnell in den Arbeitsmarkt einwandern.“

Ein Satz, der von einem FDP-Politiker stammen könnte. Auch manch andere Äußerung der Wissenschaftlerin verführt dazu, sie für eine Anhängerin des kleinsten Berliner Koalitionspartners zu halten. Deitelhoff kritisiert, dass die Regierung die Menschen in eine Passivität gedrängt habe, die bei ihnen das Gefühl der Machtlosigkeit verstärke. Ob Finanzkrise, Corona oder Ukrainekrieg: Stets sei der Bevölkerung der Eindruck vermittelt worden, die Politik federe die Folgen dieser Umwälzungen ab, und tiefgreifende Änderungen im Land seien nicht nötig: „Gucken Sie nicht auf den Verkehrsunfall – einfach weitergehen!“ Doch angesichts der vielfachen Herausforderungen, zu denen noch die notwendige Energiewende komme, könne man sich eine solche Mentalität nicht mehr leisten. „Man darf sich nicht ins Schneckenhaus zurückziehen“, mahnt Deitelhoff und warnt mit Blick auf die hiesige Liebe zur dänischen Gemütlichkeit vor zu viel „hygge“.

Auch dem Kennedy-Zitat „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst“ vermag die Professorin etwas abzugewinnen, wobei sie hinzufügt, dass „dieses Land nicht für alle gleichermaßen etwas tut“. Ist sie also eine Liberale? Deitelhoff, die zwei Jahre als wissenschaftliche Assistentin für einen SPD-Bundestagsabgeordneten gearbeitet hat, lacht ihr derbes Schulhoflachen. Mit der „alten FDP“ könne sie etwas anfangen, mit der neuen nichts.

Wann der Rechtsstaat handeln muss

So sei festgestellt, dass Deitelhoff linksliberal ist, und zwar im besten Sinn des Wortes, wie etwa auch ihr Professorenkollege Meron Mendel, der an der Frankfurt University of Applied Sciences lehrt und die Bildungsstätte Anne Frank leitet. Beide Intellektuelle verbindet, dass der zweite Teil des genannten Kompositums bei ihnen nicht zu kurz kommt – im Gegensatz zu manch anderem, der mit diesem Begriff belegt wird. Wie Mendel ist Deitelhoff offen für andere Meinungen, gegen ein zu enges Ziehen der Sagbarkeitsgrenzen, aber überzeugt davon, dass es in einer Demokratie Werte und Regeln gibt, die nicht missachtet werden dürfen.

Das Gespräch mit ihr fällt auf den Tag, an dem die Frankfurter Polizei die besetzte ehemalige Dondorf-Druckerei räumt. Die Okkupanten wollten in dem Gebäude, das zurzeit noch von der Goethe-Uni verwaltet wird, ein autonomes Kulturzentrum einrichten. Deitelhoff, die Anfang der Neunzigerjahre in der Antifa aktiv war, laviert ein wenig bei der Frage, was sie von Besetzungen und anderen Kundgebungen „zivilen Ungehorsams“, etwa denen der Letzten Generation, hält. Kategorisch verurteilen mag sie diese nicht. Solche Aktionen könnten die Aufmerksamkeit auf Themen lenken, die sonst womöglich zu wenig Beachtung fänden: Dass das historische Dondorf-Gebäude es verdienen könnte, erhalten zu werden, sei ihr erst bewusst geworden, nachdem über dessen Besetzung berichtet worden sei.

Dann aber sagt Deitelhoff etwas, das den Aktivisten und ihren teils linksextremen Unterstützern nicht gefallen wird: Ein Rechtsstaat müsse handeln, wenn seine Regeln verletzt würden. Und wenn Bürgern dieses Rechtsstaats ein Anliegen so wichtig sei, dass sie deshalb Gesetze missachteten, müssten sie die Strafe dafür akzeptieren.

Weitere Forschungsprojekte in Frankfurt

Die Regelbrüche von Hausbesetzern und Klimaklebern muten allerdings harmlos an verglichen mit jenen, denen der größte Teil von Deitelhoffs wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gilt. „Am Ende des Tages bin ich diejenige, die sagt: Das Glas ist halb voll“, charakterisiert sich die Forscherin selbst. Doch beim Blick auf die Weltlage „bekommt mein Glas schon echt Sprünge“. In der Ukraine seien die Chancen Putins, den Krieg zu gewinnen, erheblich gestiegen. Verhindern könne das der Westen nur durch anhaltende Finanzhilfen und gesteigerte Waffenproduktion – „das sagt eine Friedensforscherin!“ Was sie „wahnsinnig“ macht, ist die Forderung, sofort Gespräche mit Russland über einen Waffenstillstand aufzunehmen: „Man kann keine Friedensverhandlungen führen mit jemandem, der keine Friedensverhandlungen führen will!“

Deitelhoff, deren Einschätzungen zum Ukrainekrieg eine größere Haltbarkeit bewiesen haben als die mancher ehemaliger Generäle, wird diesen Großkonflikt auch künftig von Frankfurt aus analysieren. Wie sie bestätigt, hatte sie sich darum beworben, als Nachfolgerin von Jutta Allmendinger Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung zu werden. Dem Vernehmen nach wird diesen Posten jedoch die Frankfurter Wirtschaftswissenschaftlerin und Leibniz-Preisträgerin Nicola Fuchs-Schündeln übernehmen.

Allzu sehr scheint Deitelhoff das nicht zu grämen, zumindest lässt sie sich nichts dergleichen anmerken. Das Land Hessen, die Goethe-Universität und das Peace Research Institute hätten ihr ein „tolles Angebot“ gemacht. Sie habe „riesige Lust darauf“, nun einen Hauptantrag für die nächste Runde der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern auszuarbeiten. Zusammen mit Kollegen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften will sie nach Wegen suchen, das zurückzugewinnen, was vielen Menschen im Krisenstakkato der vergangenen Jahre verloren gegangen ist. Der Arbeitstitel des Projekts lautet „Vertrauen im Konflikt“.

Von Sascha Zoske aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26.12.2023, rhein-main/frankfurt. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv