DER SPIEGEL 10/2025
SPIEGEL-Gespräch
Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher hat erforscht, warum Rechtspopulisten die Konservativen in vielen Ländern verdrängt haben. Was können Friedrich Merz und die Union daraus lernen?
Tobias Rapp
Biebricher, 50, Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte in Frankfurt am Main, beschäftigt sich mit Konservatismus – und ist damit einer der wenigen in der deutschen Politologie. Seine Studie »Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus« erschien vor zwei Jahren und vollzieht nach, wie die konservativen Parteien in vielen europäischen Ländern ihre Machtpositionen an die populistische Rechte verloren haben. Er lebt in Berlin.
SPIEGEL: Herr Biebricher, Friedrich Merz hat das Angebot von Alice Weidel zu einer Zusammenarbeit ausgeschlagen. Seine Begründung: Man habe grundsätzlich andere Vorstellungen zum Euro, zur Sicherheitspolitik und zur Nato. Ist das alles, was die Parteien trennt?
Biebricher: Nein. Ich glaube, die Unterschiede gehen tiefer.
SPIEGEL: Wie tief?
Biebricher: Union und AfD haben ein unterschiedliches Menschenbild. Das der Union wurzelt im Christentum, das der AfD ist völkisch. Wobei das in der Politik elastisch ist. Man kann offensichtlich ein christliches Menschenbild haben und trotzdem eine Verschärfung der Migrationspolitik fordern.
SPIEGEL: Ist das C bei CDU und CSU wirklich noch wichtig?
Biebricher: Ich würde schon sagen, dass – bei all den Relativierungen, die man auch immer einbauen muss – die Union nach wie vor von einer konservativen Grundintuition zehrt: Es geht darum, das Bestehende, das Bewährte zu erhalten. Institutionen etwa, nicht zuletzt politische. Das gibt der Union eine zutiefst staatstragende Ausrichtung. Konservative wollen das bewahren, was sie als natürlich verstehen, und aus christdemokratischer Sicht bedeutet das im Übrigen auch, dass die Schöpfung insgesamt zu bewahren ist, wie es ausdrücklich im Grundsatzprogramm der Union festgehalten ist.
SPIEGEL: Und die AfD?
Biebricher: Die AfD ist in diesem Sinne eine revolutionäre Partei. Sie will den Status quo nicht bewahren, sondern etwa das Parteiensystem zerstören und den parlamentarischen Betrieb, den sie verachtet, in seiner vermeintlichen Ineffektivität vorführen.
SPIEGEL: Trotzdem gelten beide Parteien als konservativ.
Biebricher: Das Konservative trägt den autoritären Kipppunkt immer mit sich, das sollte man bei allen Unterschieden nie vergessen – selbst wenn sie so grundlegend sind wie zwischen Union und AfD.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Biebricher: Zwei Dinge sind wichtig, um den Konservatismus zu verstehen. Das eine: Seit er in Europa als Reaktion auf die Französische Revolution entstand, ist sein Kern der Versuch, sich gegen den Fortschritt zu stellen. Daraus ergibt sich: Konservatismus ist im Wesentlichen eine Reaktion. Die beiden anderen großen politischen Bewegungen der Moderne, der Sozialismus und der Liberalismus, hatten genaue inhaltliche Vorstellungen. Sie wollten einen neuen Menschen, eine bessere Welt. Der Konservatismus ist inhaltlich sehr viel unbestimmter.
SPIEGEL: Ist er dann nicht ein hoffnungsloses Projekt? Fortschritt ist doch nicht aufzuhalten.
Biebricher: Ja, Konservatismus ist auch ein vergebliches Unterfangen. Der entscheidende Moment der konservativen Erfahrung ist, dass es irgendeine Neuerung gibt, die man lange bekämpft hat – und die nun da ist. Daraus haben sich drei unterschiedliche Typen ergeben, bis heute. Der resignative Konservatismus, der den Lauf der Geschichte sieht und sagt: Es ist alles vorbei, das Gute ist vergangen, nichts und niemand wird es zurückbringen. Dafür würde heute etwa ein Autor wie Botho Strauß stehen.
SPIEGEL: Eine Figur des Rückzugs.
Biebricher: Genau, dem nur so eine Art geisteselitäres Besserwissen bleibt. Dann gibt es den pragmatischen Konservatismus, der sagt: Wenn die Welt sich schon weiterdreht, dann versuche ich, den Wandel möglichst stark zu verlangsamen, und verteidige in meinem Wunsch nach Stabilität den jeweils aktuellen Status quo.
SPIEGEL: Wie die Union?
Biebricher: Ja. Der Umgang mit der gleichgeschlechtlichen Ehe ist ein klassisches Beispiel für diesen Pragmatismus: Man ist dagegen, aber wenn sie sich eben nicht mehr verhindern lässt, ist das das neue Normal. Und dieses neue Normal muss man dann wiederum gegen Änderungen verteidigen. Das kann kompliziert sein, weil man sich immer wieder verbiegen muss, wenn man sich zur jeweils neuen Gegenwart bekennt. Aber der entscheidende Punkt ist das Bekenntnis zur Stabilität als oberstem politischen Wert.
SPIEGEL: Und der dritte Typ?
Biebricher: Es gibt noch den autoritären Konservatismus. Der sieht die Welt und hat das Gefühl, dass da nichts mehr ist, das zu verteidigen sich lohnt. Deshalb will er diese Welt zerstören – um überhaupt erst wieder etwas zu erschaffen, das erhaltenswert wäre. In unterschiedlichen Ausformungen findet sich das bei der AfD, aber auch bei Donald Trump und Elon Musk.
SPIEGEL: Trifft der pragmatische Konservatismus auf die Union wirklich zu? In der frühen Bundesrepublik war sie doch dem Neuaufbau verpflichtet, dem Wirtschaftswunder, dem Fortschritt.
Biebricher: Die Geschichte der Union ist eigen. In den Vierzigern und Fünfzigern des vergangenen Jahrhunderts hat sie es vermieden, als konservativ zu gelten, weil der Begriff durch das Versagen des deutschen Konservatismus in der Weimarer Republik belastet war. Er ist erst Ende der Siebziger wieder im CDU-Programm aufgetaucht. Außerdem hatte die Union verschiedene Wurzeln: im Liberalismus, in der christlichen Sozialethik. Aber es stimmt: Am Anfang der Union steht tatsächlich der Bruch mit dem alten deutschen Konservatismus, der ja immer technikfeindlich, demokratiefeindlich und nationalromantisch war. Die Union wollte in die liberale und technische Moderne. Es blieben aber konservative Restbestände in der Skepsis gegenüber der kulturellen Moderne – das zeigte sich dann zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung.
SPIEGEL: Die Union war eher eine Sammlungsbewegung als eine konservative Partei?
Biebricher: Sie war eine Volkspartei, auch das war damals eine neue Erfindung. Sie wollte Grenzen überwinden, zwischen den Klassen, zwischen Protestanten und Katholiken. Die zentrale Ressource war das christliche Menschenbild – was interpretiert wurde als: Wir wollen gesellschaftliche Gegensätze überwinden. Soziale Marktwirtschaft, Sozialpartnerschaft waren die Stichworte. Das funktionierte auch lange sehr gut.
SPIEGEL: Bis wann?
Biebricher: Ganz genau lässt sich das nicht sagen. Aber die Formel verbrauchte sich. Die religiösen Loyalitäten wurden schwächer, die Bindungskräfte der großen gesellschaftlichen Milieus ebenfalls. Und an deren Stelle traten dann große Ausschläge in Richtung Wirtschaftsliberalismus.
SPIEGEL: Die Christdemokratie ist in vielen europäischen Ländern erodiert – in Italien, in Frankreich. In Deutschland nicht. Warum ist die Union bei uns noch so stark?
Biebricher: Das liegt an Angela Merkel. Merkel ist es gelungen, geräuschlos und erfolgreich zu regieren. Sie war eine Kanzlerin, die den Anschein vermittelte, Probleme zu lösen. Aber viele Probleme wurden nicht wirklich gelöst, sie wurden einfach nur externalisiert und vertagt. Man hat von der Substanz gelebt, die über lange Zeit vorher aufgebaut worden ist – und sie einfach aufgebraucht.
SPIEGEL: Das ist ein harter Satz.
Biebricher: Es ist erst mal eine Beschreibung der Realität. Ein Beispiel: In der Merkel-Ära gab es einen mächtigen Wirtschaftsboom, über Jahre sprudelten die Steuereinnahmen. Man hätte das größte Infrastruktur-Erneuerungsprogramm der deutschen Geschichte auflegen und sich das Geld dafür zum Nulltarif leihen können. Es wurde nicht gemacht – weil die inhaltlichen Vorstellungen des deutschen Konservatismus auf die Einhaltung der Schuldenbremse heruntergeschrumpft waren. Jede marode Oberleitung und jede behördliche Fax-Maschine bezeugen dieses Versäumnis.
SPIEGEL: War »Wir schaffen das!« nicht aber stark im christlichen Menschenbild verankert?
Biebricher: Doch, durchaus, und dies war ja einer der wenigen Punkte, in denen die Probleme – zumindest bis zum Abkommen mit der Türkei – gerade nicht etwa an die europäischen Außengrenzen externalisiert wurden. Aber grundsätzlich gilt für die Ära Merkel, dass Positionen geräumt und keine Anstalten gemacht wurden zu sagen: Wir wollen dies bewahren und jenes nicht. Merkels Strategie der asymmetrischen Demobilisierung lief darauf hinaus, jede politische Gegnerschaft zu entkräften, alle Konfrontationen ins Leere laufen zu lassen – aber wenn man so etwas macht, kommt irgendwann der Punkt, wo man selbst keine Position mehr hat.
SPIEGEL: Ist der Erfolg der AfD in dem Sinne die gerechte Strafe?
Biebricher: Das ist zu einfach. Zunächst einmal zehrt die Union bis heute vom Andenken an die Ära Merkel. Dass ihr in fast allen Politikfeldern große Kompetenz zugetraut wird, hat ja mit ihrer vermeintlichen Gabe zum Krisenmanagement zu tun. Zum anderen: Die Kontinuität und der Erfolg jener Jahre hat – anders als in fast allen anderen europäischen Ländern – auch dazu geführt, dass die rechte Radikalisierungsdynamik, die es dort gab, bei uns lange ausgeblieben ist.
SPIEGEL: Der Aufstieg der AfD hat die Union in eine Zwickmühle gebracht. Wenn sie sich deren Vorstellungen von einer anderen Migrationspolitik annähert, heißt es: So macht man die AfD nur noch stärker, weil die Leute im Zweifel lieber das Original wählen. Tut die Union das nicht, heißt es, sie ignoriere den Wunsch der Mehrheit nach einer anderen Politik – und mache die AfD stark. Wie kommt der pragmatische Konservatismus da raus?
Biebricher: Mir ist kein einziger Fall bekannt, wo es geklappt hat, die Rechtsautoritären zu entzaubern, indem man mit ihnen zusammenarbeitet. Da kann man alle europäischen Länder durchgehen, es gibt ihn nicht. Es ist jedes Mal nach hinten losgegangen. Die Christdemokraten haben immer verloren.
SPIEGEL: Was hat stattdessen funktioniert?
Biebricher: Anstatt das Themenfeld der AfD zu bespielen, Stichwort Migration, und sich damit auch immer wieder eine Debatte über die sogenannte Brandmauer einzuhandeln, müsste die Union selbst die Agenda setzen. Es gibt eine Menge Themen, die sie in den Vordergrund rücken kann, etwa die Wirtschaft.
SPIEGEL: Das reicht?
Biebricher: Es kommt sehr auf den Ton an. Ein klassischer konservativer Sound angesichts der immensen Herausforderungen wäre eine Wir-müssen-den-Gürtel-enger-schnallen-Debatte. Wir stehen zusammen, und alle müssen Opfer bringen. Das kann allerdings auch gefährlich sein, wenn der Eindruck vorherrscht, dass die konservative Politik eben nicht darauf hinausläuft, dass alle gleich große Opfer bringen.
SPIEGEL: Es wäre ein Appell an die Gemeinschaft.
Biebricher: An eine Gemeinschaft, die die Union dann in Abgrenzung zur AfD inklusiver denken könnte. Nicht völkisch, zum Beispiel.
SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass der Tag kommt, an dem Friedrich Merz erkennt, dass ein großer Teil der türkischen und arabischen Einwanderer eigentlich seine Leute sein könnten? Weil sie an Familienwerte glauben, an das Aufstiegsversprechen des Kapitalismus und weil sie lieber Mercedes fahren als Lastenrad?
Biebricher: Ich würde es nicht ausschließen. Es wäre ein gewagtes politisches Manöver und würde einigen Mut erfordern.
SPIEGEL: Sowohl die Kirchen als auch die Arbeitgeber fremdeln mit den migrationspolitischen Vorstellungen der Union. Ist das ein Problem für eine konservative Partei, wenn man Kapital und Kirche nicht mehr erreicht?
Biebricher: Ich glaube, die Verbindung zum Kapital ist intakt. Es gab lange keine Unionsführung mehr, die so nah am Wirtschaftsliberalismus war wie die aktuelle. Die Spannung mit den Kirchen ist aber mit den Händen zu greifen. Christlich zu sein, muss nicht notwendigerweise heißen, dass man an die Willkommenskultur glaubt. Aber wer ein christliches Menschenbild hat, für den bedeuten Begriffe wie Fürsorge und Mitleid eben etwas. Das ist schwer in Einklang zu bringen mit der Idee, dass Asylbewerber an den Grenzen abgewiesen werden sollen. Und so sehr die Bedeutung der Religion abgenommen hat – wenn man schon sonst immer weniger intellektuelle Infrastruktur hat, halte ich es für schwierig, sich auch noch von den Kirchen zu verabschieden.
SPIEGEL: Auf der einen Seite ändert sich die Welt rabiat, ein Teil der AfD-Wählerschaft ist von einer großen Veränderungsmüdigkeit getrieben. Gleichzeitig wird ja jede neue Technologie unter dem Aspekt betrachtet, ob von ihr nicht eine Gefahr ausgehen könnte. Wie sähe vor diesen Entwicklungen ein Konservatismus der Zukunft aus?
Biebricher: Eigentlich ist das die perfekte Gemengelage für Konservative! Genau diese Ambivalenzen sind deren Terrain. Sie könnten den Leuten erklären, dass die Dinge sich ändern müssen. Dass der Kapitalismus manchmal zerstörerisch sein muss, aber dass man auf der anderen Seite an bestimmten Dingen festhalten kann. Dieser Widerspruch muss moderiert werden – im Grunde ist das konservatives Business as usual.
SPIEGEL: Beherrscht die Union dieses Business noch?
Biebricher: Siehat die passende Ansprache in den vergangenen 20 Jahren nicht wirklich gefunden. Der Slogan von »Laptop und Lederhose«, den der damalige Bundespräsident Roman Herzog für Bayern geprägt hat, traf es, aber das ist lange her. Und ich muss gestehen, dass ich der Merz-Linnemann-Union da nicht allzu viel zutraue. Der CDU-Generalsekretär sagt in jeder Fernsehrunde, er glaube daran, man müsse »einfach mal machen«. Das ist sehr stark entlang des Modells der Disruption gedacht. Das kommt aus einer liberalen politischen Kultur, nicht aus dem Konservatismus. Natürlich liegt es nahe, die durch diesen wirtschaftlichen Liberalismus freigesetzten Fliehkräfte auf der gesellschaftspolitischen Ebene zu kompensieren. Bei der Abtreibungsfrage. Oder der geschlechtlichen Selbstbestimmung. Mit einer Leitkulturdebatte. Dass man so versucht, Kitt herzustellen, der das Soziale zusammenhalten soll.
SPIEGEL: Passen Kapitalismus und Konservatismus überhaupt zusammen?
Biebricher: Der Konservatismus hat sich seit Langem immer auf den Kapitalismus als Wirtschaftsmodell festgelegt, nicht zuletzt aus einer Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus heraus. Damit hat er einen Partner, der gar nicht anders kann, als Disruptionen zu erzeugen. Milieus zu zerstören, Regionen veröden – und andere erblühen zu lassen. Diesen Widerspruch kann man nicht wegreden. Die Christdemokratie hat das immer wieder eingehegt, durch das Bekenntnis zu einer auch sozialen Marktwirtschaft, betrieblicher Mitbestimmung und Ähnlichem. Aber, ja, die Grundspannung bleibt bestehen.
SPIEGEL: Und wird der Widerspruch nicht sehr clever von der AfD bewirtschaftet? Wir begegnen dem schnellen sozialen und wirtschaftlichen Wandel durch die Betonung von Grenzen, sagt man dort – und das verfängt. Es ist die einfachere Erzählung.
Biebricher: Ja. Die Union hat im Wahlkampf versucht, das in den demokratischen Diskurs zurückzuholen. Wie erfolgreich sie damit war, ist offen. Mir persönlich war das auf jeden Fall zu vergangenheitsfixiert. Die Quintessenz des Konservatismus findet sich doch in dem berühmten Satz aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman »Der Leopard«: »Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.« Dafür braucht man eine Idee der Zukunft. Und dann muss man geschickt an den kleinen Schrauben drehen – gerade, um eben nicht das große Rad drehen zu müssen.
SPIEGEL: Herr Biebricher, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Das Gespräch führte der Redakteur Tobias Rapp.
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