Nicola Fuchs-Schündeln, die künftige Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, spricht über die neue deutsche Freizeitliebe und erklärt, wie das Rentenalter steigen und die Schuldenbremse gelockert werden sollte.

Frau Fuchs-Schündeln, wie viele Stunden je Woche arbeiten Sie im Schnitt?

Das kann ich nicht so genau sagen, weil es stark schwankt. Abgenommen hat meine Arbeitszeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten sicher nicht.

Mehr als 40 Stunden die Woche?

Auf jeden Fall.

Der Trend geht in die andere Richtung: Viertagewoche, Rente mit 63, eine freizeitliebende Generation Z – wollen die Deutschen immer weniger arbeiten?

Ja. In den zwei Jahrzehnten vor Corona haben die Beschäftigten ihre Arbeitszeit im Schnitt um mehr als fünf Stunden pro Woche reduziert. Weniger arbeiten zu wollen ist keine Generationenfrage: Wir sehen das bei Älteren wie bei Jungen, bei Frauen und Männern. Es gibt mehr Arbeit in Teilzeit und weniger Menschen, die 50 Stunden und mehr arbeiten.

Es stimmt also gar nicht, dass die Berufseinsteiger da völlig anders ticken?

Nein, überhaupt nicht. Nicht nur die Generation Z will weniger arbeiten. Sie sehen das ja zum Beispiel auch in den Tarifverhandlungen, da geht es jetzt oft um kürzere Arbeitszeiten.

Trotz des Rückgangs haben die Deutschen vergangenes Jahr 1,3 Milliarden Überstunden geleistet. Der Kanzler sagt: „Wer da von Faulheit spricht, hat aus meiner Sicht nicht mehr alle Latten am Zaun.“ Hat er recht?

Ich würde sowieso nicht von Faulheit sprechen. Wie viel wir arbeiten, ist eine persönliche Entscheidung. Wir wägen ab, wie viel wir arbeiten und konsumieren oder wie viel Freizeit wir haben wollen. Dabei spielen Rahmenbedingungen und Anreize eine Rolle. Mit Blick auf die Wohlfahrt der Gesellschaft kann man es erst mal positiv beurteilen, dass Menschen es sich leisten können, weniger zu arbeiten.

Es handelt sich also um ein Wohlstandsphänomen?

In der Ökonomie sprechen wir vom Einkommenseffekt: Wenn die Stundenlöhne steigen und wir relativ gesehen produktiver und reicher werden, können wir das gleiche Einkommen mit weniger Arbeitszeit erwirtschaften. Und viele Leute wollen dann mehr Freizeit. Freizeit ist eben auch eine Form von Konsum. Wir konsumieren Zeit, wir verbringen Zeit mit unseren eigenen Interessen. Dieses Phänomen gibt es in den USA und allen europäischen Ländern, aber in Deutschland ist der Rückgang der Arbeitszeit pro Beschäftigtem mit am stärksten.

Woran liegt das?

In Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten viele Frauen auf den Arbeitsmarkt gekommen, aber viele von ihnen arbeiten in Teilzeit. Es gibt zusätzlich auch den Effekt, dass Väter etwas weniger arbeiten, wenn die Mütter vermehrt berufstätig sind. Auch Ältere arbeiten heute öfter als noch vor zwei Jahrzehnten, aber eher weniger Stunden als der Durchschnitt. Unter dem Strich stehen in Deutschland weniger Arbeitsstunden, weil die zusätzlichen Beschäftigten die kürzeren Arbeitszeiten nicht ausgleichen. Ein weiterer Grund dafür ist die Besteuerung.

Inwiefern?

Deutschland hat zum Beispiel im Vergleich zu den USA einen relativ hohen Durchschnittssteuersatz und hohe Mehrwertsteuern. Es bleibt also weniger Einkommen übrig, und man kann davon weniger konsumieren. Das führt dazu, dass es sich weniger lohnt zu arbeiten. Und dann ist da noch das Ehegattensplitting, das vor allem für verheiratete Frauen, die relativ wenig verdienen, zu einem hohen Grenzsteuersatz führt. Das macht das Arbeiten für sie unattraktiver. Volkswirtschaftlich ist das ein Problem: 50 Prozent der Universitätsabsolventinnen sind Frauen. In den Führungsebenen der Unternehmen spiegelt sich das aber nicht wider, da geht sehr viel Talent verloren.

Was könnte die Politik sofort tun, um den Trend zu weniger Arbeit zu drehen?

Bezüglich der Frauen wäre ein wichtiger Schritt eine Steuerreform Richtung individuelle Besteuerung, also weg vom Ehegattensplitting. Zusätzlich sollte man das Minijob-System reformieren, das viele Frauen davon abhält, mehr zu arbeiten, und eben kein Sprungbrett in Vollzeit ist, und die Kinderbetreuung weiter verbessern. Das alles könnte sofort angegangen werden. Schwieriger ist es für die Politik, die gesellschaftlichen Normen zu beeinflussen. Also: Akzeptieren wir es als Gesellschaft, wenn Mütter in Vollzeit arbeiten? Und wie gehen wir mit Vätern um, die sich mehr in der Kinderbetreuung engagieren? Solche Normen sind weiche Faktoren, haben aber große Bedeutung, denn wir sind soziale Wesen und wollen gesellschaftliche Anerkennung. Gegen Normen zu verstoßen verursacht Kosten.

Was für Kosten?

Eine Studie aus Schweden zeigt zum Beispiel sehr anschaulich, dass beruflicher Erfolg für Frauen die Scheidungswahrscheinlichkeit erhöht, anders als für Männer. Das sind psychologisch und monetär enorme Kosten.

Das Thema Ehegattensplitting ist ja ein Dauerbrenner. Ist es realistisch, dass es in Deutschland jemals abgeschafft wird?

Es steht immer in einigen Wahlprogrammen, wird dann aber doch nicht angegangen. Politökonomisch ist es eine schwierige Sache. Eine reine Abschaffung würde die Steuerlast von Ehepaaren erst mal erhöhen. Man bräuchte also eine größere Steuerreform, wenn man das verhindern möchte. Außerdem träfe die Reform vor allem Ehepaare, bei denen einer sehr gut verdient und der andere sich eher um den Haushalt kümmert. Diese Gruppe findet politisch leicht Gehör. Aber es gibt auch kleinere Schritte, zum Beispiel die Abschaffung der Steuerklassen, die einfach umzusetzen ist und von der Ampelkoalition ja zumindest auch angekündigt wurde.

Auch bei älteren Menschen gibt es viel Potential. Sollte die Rente mit 63 abgeschafft werden?

Angesichts der demographischen Entwicklung ist die Rente mit 63 keine gute Idee.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Das Renteneintrittsalter sollte an die steigende Lebenserwartung gebunden sein und auf diese Weise automatisch steigen. Das ist für alle Generationen das fairste Vorgehen.

Den Unternehmen fehlen die Arbeitskräfte inzwischen an allen Ecken und Enden. Müssten sie nicht einfach die Löhne erhöhen, damit die Leute wieder mehr arbeiten?

So einfach ist das nicht. Es könnte auch sein, dass die Menschen ihren Lebensstandard dann mit noch weniger Arbeitsstunden erreichen können und die Arbeitszeit weiter reduzieren. Helfen könnte eher eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, die das Arbeiten attraktiver macht. Zudem würde ich mit einer Trendumkehr rechnen, wenn sich Deutschland wirtschaftlich nicht gut entwickelt und wir im internationalen Vergleich zurückfallen.

Aber warum sollte das den Einzelnen stören, solange er genug Geld und viel Freizeit hat?

Seit vielen Jahren folgt eine Krise auf die nächste, die Menschen sind verunsichert. Wenn die Menschen zunehmend das Gefühl haben, mehr vorsorgen zu müssen, ist das auch ein Anreiz, wieder mehr zu arbeiten. Und fehlendes Wirtschaftswachstum kommt irgendwann bei den Menschen an. Zudem ist Wirtschaftswachstum auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wichtig, weil Wachstum Umverteilung erheblich erleichtert.

Wenn in Deutschland derzeit über die Standortschwäche geredet wird, geht es um Bürokratie, Steuern und Energiekosten. Ist das der richtige Fokus?

Das sind sehr wichtige Themen, aber es besteht die Gefahr, dass wir uns von Krise zu Krise hangeln und die langfristigen wichtigen Themen aus den Augen verlieren.

Zum Beispiel?

Die Schulbildung. Für das Wirtschaftswachstum in Deutschland ist das Humankapital ganz zentral. Und die Forschung zeigt, dass Bildungsinvestitionen sich auch finanziell lohnen. Gerade wenn sie Kindern aus benachteiligten Familien zugutekommen, tragen sie sich oft komplett selbst. Es muss mehr in Schulen in problematischen Regionen investiert werden, in kleinere Klassen, in mehr Sozialarbeiter.

Klingt gut, ist aber mit der Schuldenbremse wahrscheinlich unvereinbar.

Die Renditen aus Bildungsinvestitionen – das wissen wir aus der Forschung sehr genau – sind einfach extrem hoch. Es liegt auf der Hand, dass da mehr gemacht werden muss. Eigentlich sollten Bildungsinvestitionen deshalb von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Das Thema ist aber komplex, und so eine Ausnahme allein würde das Problem gar nicht lösen. Bildungsinvestitionen zahlen sich erst in weiter Zukunft aus, und das ist ein politökonomisches Problem. Politiker haben keinen kurzfristigen Anreiz, Bildungsausgaben zu priorisieren.

Sie werden dieser Forderung in Berlin bald Nachdruck verleihen können: Im September übernehmen Sie die Präsidentschaft des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, WZB, das fast 200 Forscherinnen und Forscher beschäftigt. Was ist Ihr wichtigstes Ziel?

Das WZB ist das größte sozialwissenschaftliche Institut Deutschlands, und was ich als einzigartig empfinde, ist die Interdisziplinarität des Instituts. Das schafft die Möglichkeit, sich wirklich der Grundlagenforschung zu gesellschaftlich relevanten Themen zu widmen. Da möchte ich eine führende Rolle spielen und diese Interdisziplinarität weiter prägen.

Welche Themen stehen dabei im Fokus?

Die zentralen gesellschaftlichen Themen – Migration, Bildung, Demokratie, Klimawandel, Arbeitsmärkte. Da gibt es große Herausforderungen, die eben nicht nur einen Teilbereich oder eine Disziplin betreffen, sondern uns als Gesellschaft insgesamt. Wenn wir zum Beispiel über Migration nachdenken, so spielen sowohl bei der Frage der Gründe für Migration als auch bei der Frage ihrer Auswirkungen nicht nur ökonomische Aspekte eine Rolle, sondern natürlich auch politische und soziologische.

Kritiker sagen, das WZB sei sozialdemokratisch orientiert. Stimmt das?

Das WZB ist kein politisches, sondern ein Wissenschaftsinstitut mit hervorragenden Forscherinnen und Forschern. Viele davon bringen sich in die Politikberatung ein und tun dies auf Grundlage ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse. Ein solches Engagement der Wissenschaft, ein Transfer von Forschungsergebnissen in die Gesellschaft, wird auch oft eingefordert. Und für die Politikberatung ist Berlin natürlich der optimale Standort.

Das Gespräch führten Johannes Pennekamp und Patrick Welter.

Interview mit Johannes Pennekamp und Patrick Welter aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.05.2024, Wirtschaft (Wirtschaft), Seite 16. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.