FRANKFURT Mit der Situation in Nahost setzt sich Ra’anan Alexandrowicz kritisch auseinander. Das Deutsche Filminstitut und Filmmuseum hat drei Dokumentarfilme des israelischen Filmemachers und Aktivisten gezeigt.

Von Joshua Schößler

Das Büro von Ra’anan Alexandrowicz auf dem Westend-Campus der Frankfurter Goethe-Universität ist karg eingerichtet. Es befindet sich im Gebäude des Forschungszentrums „Normative Ordnungen“. Dort arbeitet der israelische Filmemacher vorübergehend als Fellow der Forschungsinitiative „ConTrust“. Und hier nimmt er sich Zeit für ein Gespräch, während das Deutsche Filminstitut und Filmmuseum (DFF) in den vergangenen zwei Tagen drei seiner Filme gezeigt hat.

Alexandrowicz wurde 1969 in Jerusalem geboren. „Die Familie meines Vaters ist 1939 vor der nationalsozialistischen Invasion aus Polen geflohen, meine Mutter immigrierte in den späten Sechzigerjahren aus Belgien.“ Alexandrowicz wuchs in Westjerusalem auf. Von 1991 bis 1996 studierte er Filmwissenschaft an der Jerusalemer Sam Spiegel Film and Television School. Seine politische und filmische Entwicklung sei in den Neunzigerjahren gleichzeitig geschehen, sagt er. „Zu dieser Zeit begriff ich die politische Indoktrination, unter der man in der israelischen Gesellschaft aufwächst.“ Israel und Palästina seien der gleiche Ort, aber zwei unterschiedliche Bewusstseinsformen. „Der Film ist ein Medium, um diese Bewusstseinsbarrieren zu durchbrechen“, sagt Alexandrowicz.

In seinem Fellowship untersucht er den palästinensisch-israelischen Konflikt im Film. „Wir schauen uns die ersten Filmaufnahmen Palästinas an und wie der Zionismus die Macht des Filmischen für sich entdeckt.“ Man untersuche also die Macht des Filmes für die israelische Staatsbildung. „Ist der Film ein Mittel, um Geschichte aufzuzeichnen, oder um sie zu gestalten?“

Die Frage, wie Film und Wahrheit sich zueinander verhalten, stellt Alexandrowicz sich auch in seinen eigenen Filmen. „Ein Dokumentarfilm unterscheidet sich von einem fiktionalen Film dadurch, dass er faktische Wahrheit direkter adressiert.“ In einem fiktionalen Film über Nelson Mandela könne man diesem aber viel näherkommen als in einem Dokumentarfilm, der nur historisches Material verwende. Es gebe nun einmal verschiedene Formen der Wahrheit. „Persönliche Wahrheit ist etwas anderes als faktische Wahrheit.“

Das Screening der drei Filme im DFF geht auf eine Kooperation mit der Forschungsinitiative „ConTrust“ zurück. Sie werden als Trilogie gezeigt und thematisieren auf unterschiedliche Weise die israelische Besatzung in den palästinensischen Gebieten.

Für „The Law In These Parts“ (2011) holte Alexandrowicz ehemalige israelische Militärjuristen vor die Kamera. Sie waren an der rechtlichen Absicherung der Besatzung von Gaza und dem Westjordanland nach dem Sechstagekrieg 1967 beteiligt. Alexandrowicz will die Paralleljustiz nachzeichnen, unter der die Araber zu dieser Zeit in diesen Gebieten gelebt hätten. Die Militärrichter befragt er nach demokratischer und menschenrechtlicher Legitimation für zum Teil jahrzehntelang zurückliegende Entscheidungen. Dabei sitzen sie vor einem Greenscreen, auf dem historische Filmaufnahmen aus dieser Besatzungszeit gezeigt werden. Alexandrowicz holt die greisen Richter somit selbst auf die dokumentarfilmische Anklagebank.

Deutlich humorvoller ist „The Inner Tour“ von 2001. Der Film erhielt eine ehrende Erwähnung als bestes Dokumentar-feature beim Vancouver International Film Festival. In diesem Film begleitet Alexandrowicz eine palästinensische Reisegruppe aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen auf einer Bustour durch Israel. Durch die Augen einer dieser Reisegruppe bekommt der Zuschauer einen Blick auf Israel geboten, der sich stark von den üblichen Bildern jener Jahre unterscheidet. Im September 2000 begann die zweite Intifada.

Alexandrowicz versteht sich eindeutig als Aktivist. Was wahr ist und was nicht, so gibt er es in „The Law In These Parts“ zu, entscheidet der Filmemacher in seinen Filmen selbst. Einen Dokumentarfilm zu machen, habe vor allem damit zu tun, im Schnitt zu entscheiden, was man weglasse und was nicht.

Alexandrowiczs Ansichten zur Wahrheit kommen in „The Viewing Booth“ (2019) deutlich zur Geltung. Dort zeigt er der amerikanischen, jüdischen und proisraelischen Studentin Maia Levy Filmaufnahmen. Sie stammen von der Menschenrechtsorganisation B’Tselem und dokumentieren die israelische Militärpräsenz im Westjordanland. Während Levy sich die Aufnahmen anschaut, filmt Alexandrowicz ihr Gesicht und fängt ihre Reaktionen ein. Ein halbes Jahr später zeigt er ihr die Aufnahmen und konfrontiert sie damit.

„Maia sieht, wie israelische Soldaten eine palästinensische Familie wecken, und sagt, dass ihr der Kontext fehlt, um die Szene einzuschätzen“, sagt Alexandrowicz: „Aber diese Erfahrung haben Zehntausende Palästinenser gemacht. Das ist der Kontext, von dem ich wollte, dass sie ihn erkennt.“

Mit großer Sorge habe er die Debatten an amerikanischen Universitäten seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 beobachtet. „Für viele Menschen ist der 7. Oktober eine binäre Angelegenheit“, sagt Alexandrowicz. Auf der einen Seite gebe es die propalästinensischen, auf der anderen Seite die proisraelischen Stimmen: „Ich habe aber keinen nationalistischen, sondern einen menschlichen Zugang zu dem Thema. Ich sehe vor allem den Schmerz, der auf beiden Seiten vorherrscht.“ Er könne nicht entscheiden, welcher Schmerz wichtiger sei.

Dennoch ist es ihm wichtig, zu betonen, dass er den israelischen Militäreinsatz in Gaza für einen Genozid hält. „Auf beiden Seiten wurde menschliches Leben missachtet. Auf palästinensischer Seite sind die Zahlen jedoch viel höher“, sagt er. Aber vielleicht zählt auch das für Alexandrowicz zum Bereich der persönlichen Wahrheit. Seit acht Jahren lebt er mit seiner Familie in den Vereinigten Staaten.

Von Joshua Schößler. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Februar 2025, Nr. 37, Rhein-Main-Zeitung, S. 16 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv