Bildungsstätte Anne Frank und Forschungsverbund Normative Ordnungen organisieren Austausch

Plötzlich waren da Zweifel. Ist der Moment gerade der richtige für eine Konferenz über Muslimfeindlichkeit? Ist es angesichts weltweiter judenfeindlicher Kundgebungen und Übergriffe nicht viel eher der Augenblick, um über Antisemitismus zu sprechen? Gerade weil bei den Demonstrationen nun auch viele Muslime mitlaufen. Einige der Redner, die zu der Konferenz mit dem Titel „Muslimfeindlichkeit – eine deutsche Bilanz“ am Montag an der Frankfurter Goethe-Universität eingeladen waren, fragten sich deshalb, ob man das Treffen nicht besser absagen oder verschieben müsse.

Entschieden aber hat man sich dagegen. Die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff, Sprecherin des Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“ an der Goethe-Universität, begründet bei ihrer Begrüßung den Entschluss, sich doch zu treffen. „Gerade jetzt“ sei es wichtig, über Muslimfeindlichkeit zu sprechen, weil sie sich im Streit um den Gazakrieg wieder sichtbar manifestiere, meint Deitelhoff. Denn die Versuche, den Antisemitismus nun „primär zum eingewanderten Problem“ umzudeuten, würden „viel Widerhall“ erfahren. Wer differenzierter auf die Lage blicke, habe es dagegen schwer.

Bei der Konferenz ist der Forschungsverbund „Normative Ordnungen“ Kooperationspartner, organisiert hat sie die Bildungsstätte Anne Frank. Anlass ist der im Juni veröffentlichte Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit zum Thema. Drei Jahre lang haben die Forscher im Auftrag der Bundesregierung Studien durchgeführt und vorhandene Ergebnisse zusammengefasst. Die Frankfurterin Saba-Nur Cheema, die lange an der Bildungsstätte Anne Frank arbeitete, heute an der Goethe-Universität forscht und die Konferenz initiierte, war Teil dieses Gremiums.

Das Ergebnis ist ernüchternd: Muslimfeindlichkeit ist in Deutschland quer durch die Gesellschaft ein weit verbreitetes Phänomen. So stimmt etwa jede zweite Person Aussagen zu, die Muslime diskriminieren. Ein Drittel der Deutschen plädiert, obwohl das dem Grundgesetz widerspricht, für Einschränkungen der islamischen Glaubensausübung.

Am Vormittag der Konferenz berichten Mitglieder des Expertenkreises von ihrer Arbeit. Neben Cheema sitzen der Politik- und Medienwissenschaftler Kai Hafez von der Universität Erfurt, die Frankfurter Religionswissenschaftlerin Anja Middelbeck-Varwick und die Göttinger Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus auf dem Podium. Hafez wirft den Medien eine tragende Rolle bei der Verbreitung islamfeindlicher Klischees vor. Das habe vor allem damit zu tun, dass Muslime meist mit problematischen Themen – Extremismus, Terrorismus, Frauenfeindlichkeit – in Verbindung gebracht würden, besonders in Fernsehbeiträgen. So entstehe eine „Schieflage“, in der Muslime meist als Problemfall wahrgenommen würden.

In einem Vortrag legt Mahmoud Bassiouni dar, wie „muslimfeindliche Argumentationsstrategien“ funktionieren, wie Klischees verbreitet werden, ohne dass sie als solche erkannt würden. Als Beispiel nennt der wissenschaftliche Mitarbeiter der Goethe-Universität die immer wieder gehörte Behauptung, muslimisch geprägte Länder würden in einem Zustand feststecken, der mit dem christlichen Mittelalter vergleichbar wäre. Westliche Gesellschaften dagegen hätten sich durch die Aufklärung emanzipiert. Vertreten werden solche Positionen etwa von dem amerikanischen Philosophen Sam Harris oder von Thilo Sarrazin. „Bruchstellen“ wie der Holocaust würden dabei bewusst ignoriert.

Das Phänomen beschreibt Bassiouni treffend. Doch in der Annahme, dass solche Klischees oft gar als progressiv wahrgenommen werden, irrt er. Die Kritik an Sarrazins Thesen ist enorm. Und auch Sam Harris wird schon länger vorgeworfen, zwischen Extremisten und der Mehrheit der moderaten Muslimen nicht zu differenzieren. So anerkannt, wie es Bassiouni suggeriert, sind die von ihm Kritisierten gewiss nicht.

Am Nachmittag stehen Streitgespräche auf dem Programm. Der in Erlangen tätige Politikwissenschaftler Heiner Bielefeldt, der lange für den UN-Menschenrechtsrat tätig war, arbeitet sich an den „Islamkritikern“ ab. Gemeint sind Publizisten, die die islamische Religion scharf kritisieren und sich, so Bielefeldt, unberechtigt darüber beklagen, man würde sie „canceln“. Diese „Tabu-Brecher“ setzten vergiftete Debatten in Gang und stellten Muslime unter Generalverdacht. Der Politikwissenschaftler wünscht sich mehr Widerrede gegen ihre Äußerungen.

Dem will seine Kontrahentin Lale Akgün, die von 2002 bis 2009 für die SPD im Bundestag saß und den Bestseller „Tante Semra im Leberkäseland“ schrieb, gar nicht widersprechen. Sie sieht aber eine noch größere Gefahr für die Akzeptanz von Muslimen in den innerreligiösen Konflikten zwischen Liberalen und Orthodoxen. Den Konservativen, die den Rechtsstaat ablehnen, muss man stärker entgegentreten, etwa wenn sie „Gebetszeiten“ in der Schule fordern oder ihre Kinder nicht in den Sportunterricht schicken wollen. „Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Säkularisierung“, sagt Akgün.

Keinen gemeinsamen Nenner finden die Rechtswissenschaftlerin Ute Sacksofsky, Vizepräsidentin am Staatsgerichtshof des Landes Hessen, und der Anwalt und Grünen-Politiker Rupert von Plottnitz, der von 1995 bis 1999 hessischer Justizminister war. Sie diskutieren über das Kopftuch. Während sich Sacksofsky strikt gegen ein Verbot ausspricht, hält von Plottnitz es für zumutbar. Das Neutralitätsgebot komme sonst zu kurz, sagt der Jurist. Sacksofsky hält dagegen: Religionsfreiheit dürfe nicht nur im Privaten gelten. Das Tragen eines Kopftuchs als „Missionierung“ anzusehen, nennt sie „schlicht falsch“. Auf wessen Seite die Mehrheit der Konferenzbesucher steht, ist unüberhörbar. Spricht Sacksofsky, applaudiert beinahe der komplette Saal. Bei von Plottnitz bleibt das Klatschen deutlich leiser. ajue.

Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 15.11.2023, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 5. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv