Im „Guardian“ wenden sich berühmte Intellektuelle gegen die Äußerungen von Jürgen Habermas zum Krieg in Nahost. Ihre Erklärung jedoch geht ins Leere – und wird der antisemitischen Propaganda zur Zierde gereichen.

Miguel de la Riva

Nur wenige Begriffe müssen mit so großer Sorgfalt verwendet werden wie „Genozid“. Er kann keineswegs so folgenlos wie viele andere Vorwürfe in den Raum des Möglichen und Diskutierbaren gestellt werden. Zwar ist er seit 1948, als die Generalversammlung der Vereinten Nationen den entsprechenden völkerrechtlichen Straftatbestand schuf, auch Gegenstand einer nüchternen Gerichtsbarkeit, die in konkreten Fällen über sein Vorliegen nach denselben unparteiischen Verfahren und Gepflogenheiten wie über das jeder anderen Straftat entscheidet. Zugleich ruft der Begriff jedoch unabweisbar das über alle nur denkbare Diskussion erhabene normative Erbe der Schoa und des Zweiten Weltkriegs auf.

In einer im ‚Guardian‘ veröffentlichten Erklärung wurde gegen das unter anderem von Jürgen Habermas unterzeichnete Statement ‚Grundsätze der Solidarität‘ zum Krieg in Nahost eingewandt, es zolle der palästinensischen Zivilbevölkerung zu wenig Solidarität und dürfe die Diskussion darüber, ob Israel einen Genozid verübt, nicht als unmöglich erscheinen lassen. Wohlgemerkt behaupten die Unterzeichner der neuen Erklärung mit dem Titel „Das Prinzip der Menschenwürde muss für alle gelten“ – unter ihnen Nancy Fraser, Adam Tooze, Samuel Moyn und Diedrich Diederichsen – nicht, Israel verübe tatsächlich einen Genozid, wird doch scheinbar konziliant zu Protokoll gegeben, nicht alle Unterzeichner glaubten, die „juristischen Standards von Völkermord“ seien bereits erfüllt. Unter Berufung auf den Schoa-Forscher Omer Bartov weisen sie aber darauf hin, dass es sich dabei um einen Gegenstand einer legitimen Debatte handle und entsprechende Warnungen angemessen seien.

Wogegen sich die Erklärung richtet bleibt unklar

Wie sehr die Forderung der neuen Erklärung ins Leere geht, zeigt der Vergleich mit der kritisierten Passage in der Habermas-Erklärung. Diese hat nichts Gegenteiliges behauptet. Dort heißt es: „Bei aller Sorge um das Schicksal der palästinensischen Bevölkerung verrutschen die Maßstäbe der Beurteilung jedoch vollends, wenn dem israelischen Vorgehen genozidale Absichten zugeschrieben werden.“ Mit Bezug auf die aktuellen Ereignisse wird hier nur festgestellt, dass es absurd wäre, dem israelischen Gegenschlag und nicht etwa dem offen auf die Auslöschung des jüdischen Volkes und des Staats Israel abzielenden terroristischen Massaker der Hamas genozidale Absichten zu unterstellen.

Darum bleibt unklar, wogegen sich die neue Erklärung eigentlich richten soll, will sie nicht eine Verkehrung der Tatsachen heraufbeschwören. Mit dem Statement berühmter Intellektueller wird sich eine antisemitische Propaganda schmücken können, die hart daran arbeitet, die Opfer der Schoa als Akteure eines neuen Genozids darzustellen und so perverserweise den Staat Israel zum Nachfolger des nationalsozialistischen Gewaltregimes umzudeuten. Vor diesem Hintergrund trägt das Statement nicht bloß zur weiteren Verwässerung, sondern zur Verkehrung der Bedeutung eines Begriffs bei, der bis heute eine unverzichtbare Orientierungsfunktion ausübt.

Von Miguel de la Riva. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. November 2023. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.