Konferenz im Sigmund-Freud-Institut: Psychoanalytische Blicke auf Israel

Mit einem Adorno-Zitat beschrieb der Politikwissenschaftler Rainer Forst, Sprecher der Forschungsinitiative „Contrust“, in seiner kurzen Eröffnungsrede den Anspruch der Tagung am Frankfurter Sigmund-Freud-Institut. „Freiheit wäre, nicht zwischen schwarz und weiß zu wählen, sondern aus solcher vorgeschriebenen Wahl herauszutreten“, hatte der Vordenker der Kritischen Theorie formuliert. Forst sieht das als Auftrag, sich gegen das Polarisierende und Unversöhnliche zu stemmen und damit aus einer „diskursiven Situation“ zu entfliehen, die er als „vergiftet“ charakterisiert.

Ein Weg dahin liegt auf der Hand: Man lässt unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen, nähert sich einem Themenkomplex aus einer Vielzahl von Perspektiven. So sollte es auch am Sonntag bei der Konferenz unter dem Titel „Zu den Krisen in Israel, zum Israel-Palästina-Konflikt und zeitgenössischen Formen des Antisemitismus“ sein, organisiert vom Sigmund-Freud-Institut und dem Frankfurter Psychoanalytischen Institut.

Aus sozialpsychologisch-psychoanalytischer Sichtweise wurde auf den Konflikt geblickt. Die israelischen Wissenschaftler Eran Rolnik und José Brunner waren eingeladen, außerdem Kurt Grünberg, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut, der zu Antisemitismuserfahrungen in der dritten Generation forscht, und die Psychoanalytikerin Shirin Atili aus Esslingen, die über die Folgen einer fehlenden Freiheit für Palästinenser sprechen wollte. Kurz vor der Tagung aber sagte Atili ab. Warum sie sich dazu entschlossen hatte, darüber schwiegen sich die Organisatoren der Tagung am Sonntag aus.

Ein Gewinn waren die Vorträge trotzdem. Besonders die innerisraelischen Perspektiven von Rolnik und Brunner lieferten neue Sichtweisen für die deutschen Debatten über den 7. Oktober und dessen Folgen. Die Demokratie in seinem Heimatland charakterisierte Rolnik, der an der Universität in Tel Aviv forscht und regelmäßig in der liberalen israelischen Tageszeitung „Haaretz“ publiziert, als „beeinträchtigt“. Er erzählte davon, wie er im November vernommen wurde. Ein Staatsbeamter legte ihm Artikel vor, die er geschrieben hatte, und wollte wissen, ob er zu seinen Aussagen noch immer stehe. „Komisch und verwirrend“ war diese Vernehmung, einschüchtern lassen wollte sich Rolnik dadurch nicht.

In seinem Vortrag skizzierte der Wissenschaftler, wie der andauernde Konflikt zu einer Verhärtung innerhalb der israelischen Gesellschaft führte. „Der Rassismus hat sich auch im Herzen der säkularen Mitte eingenistet“, bedauert Rolnik. Die Chancen auf eine friedliche Konfliktlösung sieht er weiter schwinden, Islamisten und Rechtsradikale hätten einen großen Einfluss auf die Debatten. Was er ebenfalls beobachtet, ist eine enorme „Gefühlskälte“ gegenüber den Opfern des Hamas-Terrors. „Eine vergewaltigte Israelin bekommt kein Mitleid“, musste Rolnik feststellen. Das globale Wiedererstarken von Antisemitismus sieht er auch als „Warnsignal für die Zukunft anderer Demokratien“.

José Brunner, der ebenfalls an der Universität in Tel Aviv forscht, sprach von einer „Zeit des Absoluten“, die im Nahen Osten angebrochen sei. Israelis wie Palästinenser seien kollektiv von einer pathologischen Form des Narzissmus betroffen. Im Unterschied zu einem positiven Narzissmus zeige sich dieser „destruktiv“, mache blind gegenüber eigenen Schwächen und entwerte die anderen. Verletzungen würden so nicht geheilt, sondern man versuche, sie „ungeschehen zu machen“ – und werde dadurch „grausam, grenzenlos und unerbittlich“.

Auf den genozidalen Terrorangriff der Hamas reagiere Israel mit einer „grenzenlosen Racheaktion, die von narzisstischer Wut angetrieben ist“. Vor allem den Aufstieg der religiösen Fundamentalisten, von Islamisten wie radikalen Siedlern, macht Brunner für die verfahrene Situation verantwortlich. Zeichen der Hoffnung sieht er aktuell nicht. „Beide Seiten bewegen sich in Sackgassen des Absoluten.“

Kurt Grünberg sprach sehr persönlich und eindringlich darüber, zu welchen Verletzungen das Hamas-Massaker bei Juden in Deutschland geführt hat. Von einer „tiefen Trauer“ und einem „Entsetzen, das sich nicht mehr legt“, sei auch er seit dem 7. Oktober erfasst, berichtete der Mitarbeiter des Sigmund-Freud-Instituts. Von Weinkrämpfen sprach er, depressiven Phasen, sozialem Rückzug. Eine seiner Patientinnen kämpfe mit regelmäßigen Panikattacken. Zu Grünberg hat sie gesagt, sie habe das Gefühl, in einem nicht enden wollenden Albtraum gefangen zu sein.

In der entgrenzten Gewalt der Terroristen, in ihrer „Mordorgie“ und in der systematischen sexualisierten Gewalt, die sie verübten, die selbst die Vergewaltigung bereits getöteter Frauen beinhaltete, sieht Grünberg eine Bestätigung einer These von Jean-Paul Sartre. Der Antisemitismus sei „etwas ganz anderes als eine Denkweise“, hatte der französische Intellektuelle gesagt, er sei „vor allem eine Leidenschaft“. Eine Leidenschaft, die Ängste und Tod in die Welt bringt. ALEXANDER JÜRGS

Von Alexander Jürgs. Aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27.02.2024, Frankfurt (Rhein-Main-Zeitung), Seite 4. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv