Die Wissenschaft demonstriert im Kampf gegen Judenfeindlichkeit ihre Uneinigkeit

Es ist die Zeit der offenen Briefe. Die Hochschulrektorenkonferenz hat vergangene Woche dazu aufgerufen, Antisemitismus an deutschen Hochschulen keinen Platz zu geben, nachdem es an mehreren deutschen Hochschulen – wie in Kassel, Berlin, Frankfurt, Düsseldorf und Lübeck – zu antisemitischen Vorfällen gekommen war. HRK-Präsident Walter Rosenthal forderte konkrete Gegenmaßnahmen wie die konsequente Anzeige von Straftaten und den Ausbau von Sicherheitsvorkehrungen.

Juden haben an den Hochschulen jedoch auch einen Gegner, gegen den sie die Polizei nicht schützen kann: Wissenschaftler, die dem Antisemitismus in der vornehmen Form dämonisierender Kritik am Staat Israel oder im Gewand des Postkolonialismus den Boden bereiten und die in den Geistes- und Sozialwissenschaften tonangebend sind. Sollen sie nun die Experten im Kampf gegen den Antisemitismus sein?

Wie gespalten die Wissenschaft in dieser Frage ist, zeigt sich an den sich sprunghaft vermehrenden öffentlichen Stellungnahmen. Mehr als 250 Altertumswissenschaftler verurteilen die barbarische Gewalt der Hamas in einem offenen Brief mit klaren Worten. Der Staat Israel habe nicht nur jedes Recht, sich gegen den Terror zu verteidigen, der mit einem Freiheitskampf nichts zu tun habe. Die Hamas lasse ihm gar keine andere Wahl, und indem sie Menschen als Schutzschilder missbraucht, beschränke sie auch die Möglichkeit zum Schutz von Zivilisten. Die Initiatoren ernteten dafür wüste Beschimpfungen.

Den Gegenpol bildet die Berliner Graduiertenschule Muslimische Kulturen und Gesellschaften, die sich in einer wachsweichen Erklärung um eine Position herumdrückt. Statt Täter und Opfer zu benennen, beruft man sich auf das geteilte Band der Menschlichkeit, von dem, wenn man ehrlich ist, im Nahen Osten derzeit wenig zu sehen ist.

Auch die postkoloniale Fraktion hat sich nach langem Schweigen wieder aus dem Schützengraben gewagt. Mehrere Hundert Wissenschaftler um Robin Celikates, Vanessa Thompson und Daniel Loick, die sich „kritisch“ nennen, drückten kürzlich in einem „Brief aus Berlin“ ihre Sorge aus, dass propalästinensische Stimmen in Deutschland kein Gehör fänden oder pauschal mit der Hamas gleichgesetzt würden – was einigermaßen kurios anmutet angesichts der Tatsache, dass Pro-Palästinenser zu Tausenden die Straßen heruntermarschieren, teils mit antisemitischen Begleittönen. Die Unterzeichner begründen ihre Sorge unter anderem mit drei verbotenen Demonstrationen in Berlin, die sich dem Namen nach für den Frieden einsetzen wollten. Anscheinend meint man, dass jemand, der sich einen guten Menschen nennt, nichts Böses im Sinn haben kann. Die Berliner Polizei begründet das Verbot auf Nachfrage mit Verbindungen der Veranstalter zu radikalen Stimmen wie der inzwischen verbotenen Gruppe Samidoun, die das Massaker freudig mit Kuchen feierte.

Der Berliner Brief zeigt, wie man Antisemitismus verharmlost, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen. Vordergründig gibt man sich ausgleichend und wendet sich gegen die Verharmlosung des Hamas-Massakers. Mit dramatischer Gebärde wird ein Neukölln unter polizeilicher Besatzung an die Wand gezeichnet, in dem Palästinenser, Araber, Muslime aus geringstem Anlass brutal schikaniert werden. Belegt wird dies ausgerechnet mit einem aus belegfreien Behauptungen bestehenden Blogpost, den die BDS-nahe Organisation „Palästina spricht“ mitverfasst hat, eine Gruppierung, die Israel regelmäßig mit dämonisierender Kritik überzieht und das Hamas-Massaker auf Facebook als hoffnungsspendendes Aufbruchssignal feierte: „Wir sind überwältigt“. Kritische Wissenschaft?

Wer seine Nachrichten nicht von Hamas-Freunden bezieht, kann unschwer erkennen, dass es die behauptete Bedrohung in dieser Form nicht gibt. Es gibt hierzulande keine Demonstrationen, auf denen Palästinensern der Tod gewünscht wird. Und den amtlichen Statistiken zufolge auch kein dem Antisemitismus vergleichbares Ausmaß an Muslimfeindlichkeit. Wenn Aktivistinnen wie Deborah Feldman in Presse und Rundfunk fast täglich die Behauptung verbreiten, sie würden zum Schweigen gebracht, weil sie die israelische Politik kritisieren, dann widerlegt sich diese Behauptung von selbst.

Der Brief macht ein Muster deutlich: Ein diffuser Rassismusvorwurf wird gegen konkrete Antisemitismus-Vorfälle ausgespielt, um Opferparität behaupten zu können. Es wundert nicht, dass zu den Unterzeichnern mit Michael Rothberg und Dirk Moses auch die Matadore der postkolonialen Holocaust-Relativierung gehören.

Das Hamas-Massaker war für die postkoloniale Wissenschaft und ihre Adepten ein Gesichtsverlust. Jahrelang hatte man Gruppen und Freiheitshelden als Opfer verharmlost, die nun mit frivoler Lust Babys die Köpfe abschnitten oder in deutschen Innenstädten, mit ihren Frauen verschleiert hintendreinlaufend, ein Kalifat forderten. Es war nicht das erste Mal, dass die Schutzbefohlenen einer gesinnungsnarzisstischen „Linken“ eigene Wege gehen und diese, um sich den Irrtum nicht einzugestehen, ihre linken Prinzipien verwirft und sich dem Zynismus und der Regression hingibt. Das Erschütternde ist, dass man sich auch durch die bestialischsten Gewaltakte nicht irritieren lässt.

Die von Jürgen Habermas mitunterzeichnete Erklärung des Frankfurter Forschungszentrums Normative Ordnungen geht diesen Weg glücklicherweise nicht mit. Anders als der Berliner Brief wendet sie sich klar gegen die Behauptung, Israel plane in Gaza einen Genozid. Was die Mittel des israelischen Gegenschlags betrifft, gibt sich die Erklärung diplomatisch. Doch selbst diese ausgewogene Position trug ihr, wie Mitunterzeichnerin Nicole Deitelhoff berichtete, starke Anfeindungen ein. Die Hochschulen werden genau prüfen müssen, auf wen sie im Kampf gegen Antisemitismus bauen können. THOMAS THIEL

Von Thomas Thiel aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 22.11.2023 Forschung und Lehre (Natur und Wissenschaft), Seite N4. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv