Diskussion über postkoloniale Erinnerungspolitik

Die Nachfahren der einstigen Kolonialmächte geben sich die Klinke in die Hand, König Charles III. und Bundespräsident Steinmeier haben in Kenia und Tansania um Verzeihung gebeten, und in Brüssel hat sich jetzt die Reihe „Crisis Talks“ des in Frankfurt beheimateten Leibniz-Instituts für Friedens- und Konfliktforschung in Kooperation mit dem Forschungszentrum „Normative Ordnungen“ der Goethe-Universität der „Aufarbeitung kolonialer Gewalt“ sowie den „Möglichkeiten postkolonialer Erinnerungspolitik“ gewidmet. Staatssekretär Uwe Becker vertrat zur Begrüßung die Hessische Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten, Lucia Puttrich (CDU) und gab das Thema vor: „Wie entwickelt man Erinnerungskultur, die dem Geschehenen Rechnung trägt?“
Die Ethnologin Sabine Mannitz vom Leibniz-Institut vertrat ihren Chef Stefan Kroll zur Begrüßung und leitete mit einem Impulsvortrag das Gespräch mit der unabhängigen soziokulturellen Beraterin Laura Gelle Ganza unter Moderation des Journalisten Alexander Göbel ein. Zunächst stellte sie klar: „Unsere Forschung ist auf Frieden hin orientiert.“ Sie bedauerte, dass die Diskussion über Provenienz und Restitution geraubter Kulturgüter meist nur im nationalen Rahmen stattfinde, und wünschte sich mehr Impulse aus Brüssel. Die Kolonialgeschichte sei noch nicht abgeschlossen, sie zeitige immer noch Folgen. Diese Kontinuitäten seien aber in Schulbüchern kaum zu finden und würden in Museen nur selten behandelt. Die Gewaltgeschichte müsse in die Schulbücher, bisher aber finde Dekolonisierung meist von unten statt, sagte Mannitz und verwies auf die Umbenennung von Straßen.
„Wer die Macht hatte, bestimmte die Narrative“, fuhr sie fort. Oder, wie Göbel mit einem afrikanischen Sprichwort sagte: „Bis die Löwen eigene Historiker haben, werden die Jagdgeschichten die Jäger glorifizieren.“ Da lächelte die Afrikanerin Ganza. Sie verwies darauf, dass die Statuen in Brüssels Straßen mit Kolonialgeld finanziert worden seien – auch das Palais König Leopolds II. „Und woher kam das Geld für den Bau der Eisenbahn? Aus dem Kongo.“ Soll man also die Statuen von den Sockeln holen wie in Montreal, wo Kanadas erster Premierminister John McDonald vom Postament geholt wurde? Oder sollte man kontextualisieren, fragte Göbel. Mannitz will beides und nannte Hamburg als Beispiel: Straßen umbenennen und kontextualisieren. Aber Ganza befürchtet: „Belgien weiß nicht, wie es seine eigene Geschichte erzählen soll.“
Mannitz hat in Kanada erlebt, dass eine Entschuldigung von den Indigenen als Machtmoment wahrgenommen werde, denn was bleibe ihnen anderes übrig als diese „nette Geste“ anzuerkennen. Aber dem öffentlichen Symbol müsse eine entsprechende Aufarbeitung folgen. „Wir müssen proaktiv werden. Wir haben ein Interesse daran, was unsere Vorfahren in der Geschichte getan haben“, sagte die Ethnologin und forderte eine „Kooperation auf Augenhöhe“. Aber es sei schwierig, die afrikanischen Kollegen nach Deutschland zu holen; sie bekämen einfach keine Visa. Dekolonisierung müsse in den Hirnen, den Psychen stattfinden, ergänzte Ganza: „Wir müssen uns selbst dekolonisieren. Aber das scheint anstrengend zu sein.“ c.s.

Von Claudia Schülke aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Rhein-Main-Zeitung vom 16.11.2023 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv